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Vorher Neidet Er
Blake Pierce


Von Blake Pierce, dem #1 Bestseller Autor von VERSCHWUNDEN (einem #1 Bestseller mit über 1200 ausgezeichneten Bewertungen) erscheint nun VORHER NEIDET ER, dem zwölften Buch der mitreißenden Mystery-Reihe um Mackenzie White.

VORHER NEIDET ER ist der zwölfte Band der erfolgreichen Mackenzie White Mystery-Reihe, die mit BEVOR ER TOETET (Band #1) ihren Anfang genommen hat. Das Buch ist als kostenloser Download mit über 500 ausgezeichneten Bewertungen erhältlich!

Als zwei Kletterer tot aufgefunden werden – beide auf dieselbe verstörende Weise ermordet – muss FBI Sonderermittlerin Mackenzie White, Mutter eines Neugeborenen, ihre Höhenangst überwinden, als sie einbestellt wird, um den Serienkiller zu fassen, bevor er erneut zuschlägt. Mackenzie, die sich gerade daran gewöhnt, Mutter zu sein, will sich eine Auszeit nehmen. Aber daran lässt sich nicht denken. Kletterer werden tot in Colorado aufgefunden, nachdem sie von einem schlüpfrigen Serienkiller verfolgt und in ihren anfälligsten Momenten erwischt wurden. Ein verstörendes Muster wird erkennbar und Mackenzie realisiert bald, dass sie es mit einem Monster zu tun hat. Sie kann ihn nur erwischen, wenn sie begreift, wie sein teuflischer Verstand funktioniert. Mackenzie, die noch unter postpartalem Stress leidet und nicht bereit ist, zu ihrem Job zurückzukehren, erkennt, dass sie für die Jagd ihres Lebens nicht vorbereitet ist. Ein dunkler Psychothriller mit mitreißender Spannung: VORHER NEIDET ER ist der zwölfte Band der neuen, fesselnden Reihe mit einer Figur, die wir alle bereits liebgewonnen haben. Ein richtiger Schmöker eben, den Sie kaum aus der Hand legen wollen werden. Außerdem ist Blake Pierces erfolgreiches Buch VERSCHWUNDEN (Ein Riley Paige Mystery—Buch #1), das über 1200 Mal als ausgezeichnet bewertet wurde, als kostenloser Download erhältlich.





Blake Pierce

Vorher Neidet Er



Copyright © 2019 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig.

Buchumschlagsbild Copyright Lario Tus, mit Lizenz von Shutterstock.com


Blake Pierce

Blake Pierce ist Autor der erfolgreichen Mystery-Reihe RILEY PAGE, die aus fünfzehn Bücher (Fortsetzung folgt) besteht. Blake Pierce ist ebenfalls Verfasser der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die dreizehn Bände (Fortsetzung folgt) umfasst; der AVERY BLACK Mystery-Reihe mit sechs Büchern; der fünfbändigen KERI LOCKE Mystery-Reihe; den drei Büchern der MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe (Fortsetzung folgt); der KATE WISE Mystery-Reihe, die aus vier Büchern besteht (Fortsetzung folgt); der CLOE FINE Psycho-Thriller-Reihe, die bisher drei Bände umfasst (Fortsetzung folgt) sowie der dreiteiligen JESSE HUNT Psycho-Thriller-Reihe (Fortsetzung folgt).

Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.


BГњCHER VON BLAKE PIERCE

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE EHEFRAU (Buch Nr. 1)

DER PERFEKTE BLOCK (Buch Nr. 2)

DAS PERFEKTE HAUS (Buch Nr. 3)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Buch Nr. 1)

DES NACHBARS LГњGE (Buch Nr. 2)

SACKGASSE (Buch Nr. 3)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Buch Nr. 1)

WENN SIE SГ„HE (Buch Nr. 2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Buch Nr. 3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Buch Nr. 4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Buch Nr. 5)

WENN SIE SICH FГњRCHTEN WГњRDE (Buch Nr. 6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Buch 1)

WARTET (Buch 2)

LOCKT (Buch 3)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Buch 1)

GEFESSELT (Buch 2)

ERSEHNT (Buch 3)

GEKГ–DERT (Buch 4)

GEJAGT (Buch 5)

VERZEHRT (Buch 6)

VERLASSEN (Buch 7)

ERKALTET (Buch 8)

VERFOLGT (Buch 9)

VERLOREN (Buch 10)

BEGRABEN (Buch 11)

ГњBERFAHREN (Buch 12)

GEFANGEN (Buch 13)

RUHEND (Buch 14)



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Buch 1)

BEVOR ER SIEHT (Buch 2)

BEVOR ER BEGEHRT (Buch 3)

BEVOR ER NIMMT (Buch 4)

BEVOR ER BRAUCHT (Buch 5)

EHE ER FГњHLT (Buch 6)

EHE ER SГњNDIGT (Buch 7)

BEVOR ER JAGT (Buch 8)

VORHER PLГњNDERT ER (Buch 9)

VORHER SEHNT ER SICH (Buch 10)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Buch 1)

LAUF (Buch 2)

VERBORGEN (Buch 3)

GRГњNDE DER ANGST (Buch 4)

RETTE MICH (Buch 5)

ANGST (Buch 6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Buch 1)

EINE SPUR VON MORD (Buch 2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Buch 3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)




Kapitel eins


Mackenzie atmete tief ein und schloss die Augen, um Kräfte zu sammeln und irgendwie die Schmerzen zu lindern. Sie hatte so viel über die Atem-Methode gelesen. Doch jetzt, als Ellington sie eilig ins Krankenhaus brachte, schien sie alles vergessen zu haben. Vielleicht lag es daran, dass ihre Fruchtblase geplatzt war und sie das Wasser an ihren Hosenbeinen noch immer spüren konnte. Oder weil sie vor fünf Minuten ihre erste richtige Wehe mitgemacht hatte und die nächste sich bereits ankündigte.

Mackenzie drГјckte sich gegen den Beifahrersitz und sah zu, wie die Stadt verschwommen an ihr vorbeizog. In der Dunkelheit erkannte sie lediglich StraГџenlaternen und Regentropfen. Ellington saГџ unbeweglich hinterm Steuer und starrte wie besessen nach vorne. Er drГјckte auf die Hupe, als vor ihnen eine rote Ampel auftauchte.

„Hey, es ist okay. Du kannst einen Gang runterschalten“, sagte sie.

„Nein, nein, alles gut“, antwortete er.

Mit geschlossenen Augen legte sie die Hände auf ihren runden Bauch, um Ellington nicht beim Fahren zusehen zu müssen. Sie versuchte, die Vorstellung zu begreifen, innerhalb der nächsten paar Stunden Mutter zu werden. Ihr Baby rührte sich kaum; vielleicht hatte es vor Ellingtons Fahrmanövern genauso viel Angst wie sie selbst.

Bald bist du hier, dachte sie. Es war ein Gedanke, der ihr mehr Freude als Sorge bereitete und darГјber war sie dankbar.

Die Straßenlaternen und – schilder zogen an ihr vorbei, aber sie schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, bis sie die Wegweiser zur Notaufnahme des Krankenhauses erblickte.

Ein Mann stand am Straßenrand und wartete mit einem Rollstuhl auf sie. Ellington brachte den Wagen vorsichtig zum Stehen. Der Mann winkte und lächelte sie mit faulem Enthusiasmus zu, wie ihn die meisten Pfleger der Notaufnahme um zwei Uhr morgens zu haben schienen.

Ellington fГјhrte sie zum Rollstuhl, als bestГјnde sie aus Porzellan. Sie wusste, dass er ГјberfГјrsorglich und nachdrГјcklich war, weil auch er Angst hatte. Doch vor allem war er gut zu ihr. Das war er schon immer gewesen. Und nun konnte er beweisen, dass er auch seinem Baby gegenГјber gut sein wГјrde.

„Hey, warte, mach mal langsam“, sagte Mackenzie, als Ellington ihr in den Rollstuhl half.

„Was? Was ist los? Alles in Ordnung?“

Sie spürte, wie die nächste Wehe sich ankündigte, aber schaffte es dennoch, ihn anzulächeln. „Ich liebe dich“, sagte sie. „Das ist alles.“

Der Bann, unter dem er die letzten achtzehn Minuten gestanden war, nachdem sie ihn mit der Ankündigung, Wehen zu haben, aus dem Bett geschmissen hatte, löste sich für einen Moment in Luft auf. Er lächelte zurück, lehnte sich nach vorne und küsste sie zärtlich auf den Mund.

„Ich liebe dich auch.“

Der Mann, der den Rollstuhl festhielt, blickte etwas beschämt zur Seite. Als sie fertig waren, fragte er: „Bereit, ein Baby zu kriegen?“

Die Wehe kam und Mackenzie zuckte zusammen. Sie erinnerte sich, gelesen zu haben, dass die Wehen mit fortschreitender Zeit nur noch schlimmer werden wГјrden. Trotzdem nickte sie und ignorierte diesen Gedanken fГјr einen Moment.

Ja, sie war bereit, ihr Baby zu kriegen. Sie konnte es sogar kaum erwarten, es in den Armen zu halten.


* * *

Um acht Uhr morgens war ihr Muttermund erst vier Zentimeter geöffnet. Sie hatte sich mit dem Arzt und den Schwestern vertraut gemacht, doch mit dem Schichtwechsel veränderte sich auch Mackenzies Stimmung. Sie war müde, hatte Schmerzen und keine Lust auf einen weiteren Arzt, der hereinkam und unter ihren Kittel schaute. Doch Ellington, pflichtbewusst wie eh und je, hatte es geschafft, ihre Geburtshelferin ans Telefon zu holen und tat sein Bestes, um diese so schnell wie möglich zum Krankenhaus zu bestellen.

Als Ellington nach seinem Anruf zurück ins Zimmer kam, runzelte er die Stirn. Sie hasste es, zu sehen, dass sein Beschützer-Höhenflug der letzten Nacht verschwunden war, aber war auch froh, dass sie nicht die einzige war, deren Stimmung sich verändert hatte.

„Was ist los?“

„Sie wird für die Entbindung hier sein, aber nicht bevor du bei mindestens acht Zentimetern bist. Ich wollte dir außerdem Waffeln aus der Kantine holen, aber die Schwestern meinten, dass du nur etwas Leichtes essen solltest. Sie werden dir Wackelpudding und Eis-Chips bringen.“

Mackenzie verlagerte ihre Position und betrachtete ihren Bauch. Das war ihr lieber als die Maschinen und Monitore zu begutachten, mit denen sie verkabelt war. Als sie die Umrisse ihres Bauches nachmalte, klopfte es an der Tür. Der neue Arzt kam mit ihren Akten in der Hand herein. Er wirkte fröhlich und frisch und schien gut geschlafen zu haben.

Mistkerl, dachte Mackenzie.

Sie war dankbar, dass der Arzt die Unterhaltung aufs Mindeste beschränkte, während er sie untersuchte. Ehrlich gesagt beachtete Mackenzie ihn kaum. Sie war müde und nickte immer wieder ein, während er das Gel auf ihren Bauch auftrug, um nach dem Fortschritt des Babys zu sehen. Sie befand sich in einer Art Halbschlaf, als der Arzt sie weckte.

„Mrs. White?“

„Ja?“, fragte sie gereizt, weil ihr nicht einmal ein kurzes Nickerchen gegönnt wurde. Sie hatte zwischen den Wehenschüben immer wieder versucht, kurz zu schlafen, um wenigstens etwas Ruhe zu bekommen.

„Sind irgendwelche Beschwerden hinzugekommen?“

„Nein, ich habe dieselben Schmerzen wie schon bei unserer Ankunft.“

„Hat sich Ihr Baby in den letzten Stunden viel bewegt?“

„Ich glaube nicht. Warum … stimmt etwas nicht?“

„Das nicht unbedingt. Aber ich glaube, dass Ihr Baby sich gedreht hat. Die Chance besteht, dass es sich um eine Steißgeburt handeln wird. Und der Herzschlag ist etwas unregelmäßig. Das ist nicht selten, aber doch besorgniserregend.“

Ellington war sofort an ihrer Seite und nahm ihre Hand. „Steißgeburt … ist das riskant?“

„Kaum“, meinte der Arzt. „Manchmal wissen wir bereits einige Wochen vor der Geburt, dass sich das Baby in Steißlage befindet. Aber bei der letzten Untersuchung war Ihr Baby noch normal positioniert. Er oder sie hat sich gedreht und wenn sich jetzt nichts mehr großartig verändert, bezweifle ich, dass das Kleine sich in die richtige Position zurückmanövrieren kann. Im Moment ist es allerdings der Herzschlag, der mir Sorgen bereitet.“

„Also, was schlagen Sie vor?“, fragt Mackenzie.

„Nun, ich würde das Baby gerne gründlich untersuchen, um sicherzugehen, dass der Positionswechsel es nicht in eine Notlage gebracht hat – worauf der sprunghafte Herzschlag hindeuten könnte. Wenn es nicht so ist, und bisher gibt es keinen Grund, davon auszugehen, werden wir für Sie baldmöglichst den OP-Saal buchen.“

Die Vorstellung, die Geburtswehen zu umgehen, klang verlockend, aber operiert zu werden verschaffte ihr auch ein mulmiges GefГјhl.

„Was auch immer Sie für richtig halten“, sagte Mackenzie.

„Ist es sicher?“, fragte Ellington, der nicht einmal versuchte, das angstvolle Beben in seiner Stimme zu verstecken.

„Absolut“, meinte der Arzt und wischte das Gel von Mackenzies Bauch. „Natürlich müssen wir, wie bei jeder OP, erwähnen, dass immer ein Risiko besteht, wenn wir jemanden auf dem Tisch haben. Aber Kaiserschnitt-Prozeduren sind sehr geläufig. Ich selbst habe schon über fünfzig durchgeführt. Und wenn ich richtig liege, ist Dr. Reynolds Ihre Geburtshelferin. Sie ist wesentlich älter als ich – verraten Sie ihr nicht, dass ich das gesagt habe – und hat deshalb noch mehr Kaiserschnitte hinter sich als ich. Sie sind in guten Händen. Soll ich den OP-Saal reservieren?“

„Ja“, sagte Mackenzie.

„Gut. Ich werde den Raum besorgen und Dr. Reynolds auf den neusten Stand bringen.“

Mackenzie sah ihm nach und betrachtete dann wieder ihren Bauch. Ellington setzte sich neben sie und ihre Hände verschränkten sich über dem zeitweiligen Zuhause ihres Kindes.

„Das ist ein bisschen angsteinflößend, hm?“, fragte Ellington und küsste ihre Wange. „Aber alles wird gut.“

„Natürlich wird es das“, sagte sie lächelnd. „Denk doch mal an unser Leben und unsere Beziehung. Es macht schon fast Sinn, dass dieses Kind die Welt mit etwas Drama betritt.“

Sie meinte jedes Wort, aber auch jetzt, in einem ihrer verwundbarsten Momente als Paar, konnte Mackenzie ihre Angst nicht zeigen.


* * *

Kevin Thomas Ellington wurde um zwanzig nach zwölf geboren. Er wog 3345 Gramm und hatte, laut Ellington, den unförmigen Kopf und die roten Wangen seines Vaters. Die Geburtserfahrung war anders verlaufen, als Mackenzie es sich vorgestellt hatte, aber als sie sein erstes Schreien und seine ersten Atemzüge hörte, störte sie das nicht mehr. Sie hätte ihn genauso gut in einem Aufzug oder einem verlassenen Gebäude auf die Welt bringen können. Er war am Leben, er war hier – und das war das Wichtigste.

Sobald sie Kevins Weinen gehört hatte, gestattete Mackenzie sich, runterzufahren. Ihr Kopf schwirrte, ihr war schwummerig und die Betäubung machte sie schläfrig. Sie spürte Ellingtons Anwesenheit neben sich, der mit weißer OP-Kappe und blauem Kittel an ihrem Bett stand. Er küsste ihre Stirn und versteckte nicht, dass er weinte.

„Du warst fantastisch“, sagte er durch seine Tränen hindurch. „Du bist so stark, Mac. Ich liebe dich.“

Sie öffnete den Mund, um die Gefühle zu erwidern, war sich aber nicht ganz sicher, ob sie es tatsächlich tat. Mit den wunderschönen Lauten ihres noch immer weinenden Sohnes schlief sie ein.

Die nächste Stunde ihres Lebens war eine zerstückelte Zeit der Glückseligkeit. Sie war noch immer halb betäubt und spürte nichts, als die Ärzte sie wieder zunähten. Die Überführung in den Aufwachsaal verschlief sie komplett. Sie bekam nur wenig mit, als die Schwestern ihre Vitalfunktionen überprüften.

Doch als eine der Pflegerinnen den Raum erneut betrat, schaffte Mackenzie es, wach zu bleiben und ihren Gedanken in Worte zu fassen. Sie griff tollpatschig nach vorne, um die Hand der Schwester zu halten, verfehlte aber.

„Wie lange?“, fragte sie.

Die Schwester lächelte, als wäre sie schon oft in dieser Situation gewesen. „Sie waren etwa zwei Stunden weg. Wie geht es Ihnen?“

„Als müsste ich das Baby halten, das gerade aus mir herausgekommen ist.“

Die Schwester lachte. „Er ist bei Ihrem Mann. Ich werde sie beide reinschicken.“

Die Schwester verließ den Raum und Mackenzies Blick war starr auf die Tür gerichtet, bis Ellington hindurch kam. Er schob eines der kleinen Rollbetten des Krankenhauses. Noch nie zuvor hatte sie dieses Lächeln auf seinem Gesicht gesehen.

„Wie geht es dir?“, fragte er, als er das Bettchen neben ihr parkte.

„Als hätte man mir die Eingeweide rausgerissen.“

„Das hat man“, sagte Ellington neckisch. „Als man mich in den OP-Saal brachte, waren deine Gedärme auf ein paar verschiedene Schüsseln verteilt. Ich kenne dich jetzt in und auswendig, Mac.“

Ohne gefragt werden zu müssen, griff Ellington in das Bettchen und hob ihren Sohn heraus. Langsam übergab er ihr Kevin. Sie hielt ihn an ihre Brust und fühlte sofort, wie ihr Herz sich weitete. Eine Welle der Emotionen durchströmte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie jemals in ihrem Leben Glückstränen geweint hatte, aber als sie es jetzt taten, küsste sie den Kopf ihres Sohnes.

„Ich denke, das haben wir gut hingekriegt“, sagte Ellington. „Naja, mein Part war einfach, aber du weißt, was ich meine.“

„Ja“, sagte sie. Zum ersten Mal sah sie ihrem Sohn in die Augen und fühlte ein emotionales Klicken. Es war, als hätte sich ihr Leben für immer verändert. „Und ja, das haben wir.“

Ellington setzte sich auf die Bettkante. Die Bewegung schmerzte in ihrem Bauch, schlieГџlich waren seit der Operation erst zwei Stunden vergangen. Aber sie sagte nichts.

Sie saГџ in der Armbeuge ihres Mannes, hielt ihren neugeborenen Sohn in den Armen und konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor ein vollkommeneres GlГјck gespГјrt zu haben.




Kapitel zwei


Mackenzie hatte die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft damit verbracht, jedes Babybuch zu lesen, das sie auftreiben konnte. Es schien keine eindeutige Antwort zu geben, was man von einem Neugeborenen in den ersten Wochen erwarten konnte. Manche sagten, alles sei gut, solange man schlafe, wann immer das Baby schlafe. Andere meinten, man solle schlafen, wann immer möglich und dazu die Hilfe vom Partner oder anderen Familienmitgliedern hinzuziehen. Mackenzie war sich also im Klaren, dass Schlaf von nun an nur noch eine kostbare Erinnerung sein würde.

Und genau so war es in den ersten zwei Wochen auch. Bei Kevins erster Nachuntersuchung wurde festgestellt, dass er unter extremem Sodbrennen litt. Also musste er nach jeder Mahlzeit fГјr fГјnfzehn bis dreiГџig Minuten aufrecht gehalten werden. Das war theoretisch kein Problem, erwies sich in den frГјhen Morgenstunden aber als zermГјrbend.

In diesen Zeiten begann Mackenzie, an ihre eigene Mutter zu denken. In der zweiten Nacht nach der Vorgabe, Kevin nach dem FГјttern aufrecht zu halten, fragte Mackenzie sich, ob ihre Mutter mit Г¤hnlichen Situationen zu tun gehabt hatte und wunderte sich, wie sie als Baby gewesen war.

Sie wГјrde vermutlich gerne ihren Enkelsohn kennenlernen, dachte Mackenzie.

Aber das war ein furchteinflößender Gedanke. Die Vorstellung, ihre Mutter anzurufen und hallo zu sagen, war schon schlimm genug. Aber dann auch noch die Überraschung eines Enkelkinds einzubringen machte das Chaos perfekt.

Sie spürte, wie Kevin sich an ihr bewegte, um es sich bequem zu machen. Mackenzie checkte die Uhr auf dem Nachttisch und sah, dass sie ihn bereits seit etwa zwanzig Minuten aufrecht gehalten hatte. Er schien an ihrer Schulter eingedöst zu sein, also schlich sie zu seinem Bett und legte ihn hinein. Er war eingewickelt und sah bequem aus, also betrachtete sie ihn noch ein letztes Mal, bevor auch sie zurück ins Bett ging.

„Danke“, sagte Ellington verschlafen neben ihr. „Du bist fantastisch.“

„So fühle ich mich zwar nicht, aber danke.“

Sie machte es sich auf ihrem Kissen gemütlich und schloss die Augen. Nach etwa fünf Sekunden begann Kevin erneut zu schreien. Sie setzte sich auf und stöhnte leise. Doch dann biss sie sich auf die Lippen, um ein Schluchzen herunterzuschlucken. Sie war müde und hegte ihrem Kind gegenüber zum ersten Mal unfaire Gedanken.

„Schon wieder?“, sagte Ellington fast fluchend. Er stand auf, stolperte aus dem Bett und ging zur Krippe.

„Ich mach schon“, sagte Mackenzie.

„Nein … du warst schon vier Mal auf. Und das weiß ich, weil ich bei jedem Mal selbst aufgewacht bin.“

Sie wusste nicht, warum (vermutlich lag es am Schlafmangel, dachte sie träge), aber sein Kommentar machte sie wütend. Sie hechtete fast aus dem Bett, um zuerst bei ihrem schreienden Kind zu sein. Sie rammte ihre Schulter etwas härter als nötig in seine und nahm Kevin auf den Arm. „Oh, tut mir leid. Habe ich dich geweckt?“

„Mac, du weißt, was ich meine.“

„Das tue ich. Aber mein Gott, du könntest wirklich mehr mithelfen.“

„Ich muss morgen früh raus“, sagte er. „Ich kann nicht einfach nur …“

„Oh bitte, beende diesen Satz.“

„Nein. Es tut mir leid. Es ist nur …“

„Geh zurück ins Bett“, keifte Mackenzie. „Kevin und ich kommen schon klar.“

„Mac …“

„Halt die Klappe, geh zurück ins Bett und schlafe.“

„Das kann ich nicht.“

„Ist das Baby zu laut? Dann geh aufs Sofa!“

„Mac, du …“

„Geh!“

Mittlerweile weinte auch sie. Mit Kevin im Arm machte sie es sich im Bett bequem. Er weinte noch immer, sein Sodbrennen schien ihm leichte Schmerzen zu bereiten. Sie wusste, dass sie ihn wieder aufrecht halten müssen würde und beim Gedanken daran wollte sie noch lauter weinen. Doch sie gab ihr Bestes, sich zurückhalten, während Ellington aus dem Zimmer stürmte. Er murmelte leise etwas vor sich hin und sie war froh, ihn nicht verstehen zu können. Sie suchte nach einem Grund, zu explodieren, ihn zu beschimpfen und – ehrlich gesagt – einfach Frust abzulassen.

Sie lehnte sich an das Kopfteil des Betts und hielt den kleinen Kevin so ruhig und aufrecht wie möglich. Würde ihr Leben je wieder so sein wie früher?


* * *

Irgendwie, trotz mitternächtlichen Streitereien und Schlafmangel, brauchte die neue Familie weniger als eine Woche um ihren Rhythmus zu finden. Mackenzie und Ellington überstanden eine Woche des Sodbrennens mit praktischem Herumprobieren und danach schien alles ganz gut zu laufen. Medikamente linderten die Beschwerden und es wurde einfacher, damit umzugehen. Wenn Kevin weinte, holte Ellington ihn aus seinem Bett, wechselte die Windel und übergab dann an Mackenzie zum Stillen. Für ein Baby schlief er gut, die ersten Wochen nach dem Sodbrennen meistens drei oder vier Stunden am Stück und beschwerte sich kaum.

Es war auch Kevin, der ihnen die Augen öffnete, wie kaputt ihre eigenen Familien gewesen waren. Ellingtons Mutter kam zwei Tage nach der Geburt zu Besuch und blieb für etwa zwei Stunden. Mackenzie war höflich und leistete ihr Gesellschaft, bis sie es für angebracht hielt, sich zurückzuziehen. Sie ging ins Schlafzimmer, um sich auszuruhen, während Kevin von seinem Vater und seiner Großmutter beschäftigt wurde. Doch Mackenzie konnte nicht schlafen. Sie lauschte der Unterhaltung zwischen Ellington und seiner Mutter und war überrascht, einen Versuch der Versöhnung mitanzuhören. Mrs. Nancy Ellington verabschiedete sich zwei Stunden später und auch durch die Schlafzimmertür konnte Mackenzie die zurückbleibende Anspannung spüren.

Doch sie hatte Kevin ein Geschenk mitgebracht und sogar nach Ellingtons Vater gefragt – ein Thema, das sie für gewöhnlich immer zu meiden suchte.

Ellingtons Vater machte nicht einmal Anstalten, vorbeizukommen. Sie redeten einmal per Video miteinander und obwohl das Gespräch eine Stunde lang andauerte und Ellingtons Vater sogar ein paar Tränen verdrückte, machte er keine Pläne, seinen Enkelsohn zu besuchen. Er hatte vor langer Zeit ein neues Leben begonnen, in dem seine erste Familie keinen Platz hatte. Und daran schien er auch nichts ändern zu wollen. Ja, er hatte im letzten Jahr eine große, finanzielle Geste gemacht und angeboten, für ihre Hochzeit zu bezahlen (ein Angebot, dass sie schließlich abgelehnt hatten), aber all das war Hilfe aus der Entfernung gewesen. Er lebte derzeit mit seiner dritten Frau in London und war scheinbar beruflich ausgelastet.

Während Mackenzie immer wieder an ihre Mutter und Schwester dachte – ihre einzigen, noch lebenden Familienangehörigen – war die Vorstellung, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, eine schreckliche. Sie wusste, wo ihre Mutter lebte und war sich sicher, mit Hilfe des FBIs auch ihre Nummer herausfinden zu können. Stephanie, ihre kleine Schwester, war vermutlich schwerer zu lokalisieren. Da Stephanie nie lange an einem Ort blieb, hatte Mackenzie keine Ahnung, wo sie sich derzeit aufhielt.

Traurigerweise war das okay fГјr sie. Ja, ihre Mutter verdiente es, ihr erstes Enkelkind kennenzulernen, aber das bedeutete auch, die Narben zu Г¶ffnen, die sie vor Гјber einem Jahr endlich geschlossen hatte, als sie den Mordfall ihres Vaters zu den Akten legte. Mit dem Ende des Falles hatte sie auch die TГјr zu diesem Teil ihrer Vergangenheit zugemacht, inklusive der furchtbaren Beziehung, die sie stets zu ihrer Mutter gehabt hatte.

Es war seltsam, wie oft sie jetzt, wo sie selbst ein Kind hatte, an ihre eigene Mutter dachte. Wann immer sie Kevin im Arm hielt, erinnerte sie sich daran, wie unnahbar ihre Mutter auch schon vor dem Tod ihres Vaters gewesen war. Sie schwor sich, dass Kevin immer wissen würde, wie sehr seine Mutter ihn liebte und dass sie niemals irgendetwas anderes – weder Ellington, ihre Arbeit, noch persönliche Probleme – über ihn stellen würde.

Daran dachte sie in der zwölften Nacht nachdem sie Kevin nach Hause gebracht hatten. Sie hatte Kevin gerade gestillt, es war etwa halb zwei oder zwei Uhr morgens. Ellington kam zurück ins Zimmer, nachdem er Kevin im Raum nebenan in sein Bettchen gelegt hatte. Es war ursprünglich ein Büro gewesen, wo sie sowohl persönliche als auch berufliche Dokumente aufbewahrt hatten. Die Umgestaltung zum Kinderzimmer war einfach gewesen.

„Warum bist du noch wach?“, grummelte er in sein Kissen, als er sich wieder hinlegte.

„Denkst du, dass wir gute Eltern sein werden?“, fragte sie.

Er stützte schläfrig seinen Kopf ab und zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon. Ich meine, ich weiß, dass du es sein wirst. Aber ich … ich kann mir vorstellen, ihn eines Tages viel zu sehr anzutreiben, wenn es um Sport geht. Das ist etwas, was mein Dad nie gemacht hat und ich hatte immer das Gefühl, etwas verpasst zu haben.“

„Ich meine es ernst.“

„Ich weiß. Warum fragst du?“

„Weil unsere Familien so verkorkst sind. Woher sollen wir wissen, wie man ein Kind richtig erzieht, wo wir doch selbst nur furchtbare Erfahrungen gemacht haben?“

„Wir werden einfach alles, was unsere Eltern falsch gemacht haben, vermeiden.“

Er streckte seine Hand in die Dunkelheit und legte sie zuversichtlich auf ihre Schulter. Sie wollte, dass er sie in den Arm nahm und sie an sich zog, aber die Wunden der OP waren noch nicht voll verheilt.

Also lagen sie nebeneinander, erschöpft und voller Vorfreude auf ihre Zukunft, bis sie beide einschliefen.


* * *

Mackenzie lief wieder durch das Maisfeld. Die Stängel waren so hoch, dass sie die Spitzen nicht sehen konnte. Die Kolben selbst wirken wie alte, gelbe Zähne. Jeder Maiskolben war fast einen Meter lang; alles war so unglaublich groß, dass sie sich wie ein Insekt fühlte.

Irgendwo vor ihr weinte ein Baby. Nicht irgendein Baby, ihr Baby – sie kannte Kevins Schreien genau.

Mackenzie rannte durch die Reihen des Maisfelds, wurde von den Stängeln ins Gesicht geschlagen und sofort strömte das Blut aus den offenen Stellen. Als sie das Ende der Reihe erreichte, war ihr Gesicht blutbedeckt. Sie konnte es in ihrem Mund schmecken und sah, wie es von ihrem Kinn auf ihr Shirt tropfte.

Sie hielt an. Vor ihr lag ein offenes Feld, nichts außer Erde, totem Grass und Horizont. Doch inmitten des Feldes befand sich ein kleines Gebäude – eines, das sie nur allzu gut kannte.

Es war das Haus ihrer Kindheit und die Schreie kamen aus dem Inneren.

Mackenzie rannte zu dem Haus. Ihre Beine waren schwer, als hinge der Mais an ihr und versuche, sie zurГјck zu halten.

Sie rannte schneller und bemerkte, dass ihre Nähte am Bauch aufgeplatzt waren. Als sie die Veranda des Hauses erreichte, lief ihr das Blut die Beine hinunter und sammelte sich auf den Stufen.

Die Tür war verschlossen, aber noch immer konnte sie das Weinen hören. Ihr Baby war im Inneren des Haues und schrie. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Sie quietschte und ächzte nicht, als spiele das Alter des Hauses keine Rolle. Noch bevor sie eintrat, sah sie Kevin.

Inmitten des leeren Wohnzimmers – demselben Wohnzimmer, in dem sie als Kind die meiste Zeit verbracht hatte – befand sich ein einzelner Schaukelstuhl. Darin saß ihre Mutter und schaukelte Kevin in ihren Armen.

Ihre Mutter, Patricia White, sah sie an. Sie wirkte viel jünger als bei ihrem letzten Treffen. Sie lächelte Mackenzie an, ihre Augen waren blutunterlaufen und irgendwie alienartig.

„Gut gemacht, Mackenzie. Aber dachtest du wirklich, du kannst ihn von mir fernhalten? Warum würdest du das wollen? War ich so schlimm? Was ich das?“

Mackenzie Г¶ffnete den Mund, um etwas zu sagen und ihre Mutter dazu aufzufordern, ihr das Baby zurГјckzugeben. Aber als sie den Mund Г¶ffnete kam lediglich Maisgrannen und Dreck heraus, der auf den Boden fiel.

Währenddessen lächelte ihre Mutter und drückte Kevin enger an ihre Brust.

Mackenzie setzte sich im Bett auf, ein Schrei lag ihr auf der Zunge.

„Gott, Mac … bist du in Ordnung?“

Ellington stand in der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Er trug ein T-Shirt und Jogginghosen, ein Zeichen dafür, dass er im Gästezimmer trainiert hatte.

„Ja“, sagte sie. „Nur ein böser Traum. Ein sehr böser Traum.“

Sie sah auf die Uhr und realisierte, dass es fast acht Uhr morgens war. Ellington musste ihr die Chance gegeben haben, auszuschlafen. Normalerweise wachte Kevin gegen fГјnf oder sechs Uhr fГјr seine erste Mahlzeit auf.

„War er noch nicht wach?“, fragte Mackenzie.

„Doch, ich habe einen Beutel der gefrorenen Milch verwendet. Ich weiß, dass du sie aufheben wolltest, aber ich dachte, ich lasse dich schlafen.“

„Du bist großartig“, sagte sie und ließ sich zurückfallen.

„Vergiss das bloß nicht. Und jetzt schlaf weiter. Ich werde ihn dir bringen, wenn er eine frische Windel braucht. Deal?“

Sie brummte zustimmend während sie wieder weg döste. Für einen Moment hatte sie noch immer die Bilder ihres Albtraums vor Augen, doch sie schob sie beiseite und dachte stattdessen an ihren liebenden Ehemann und einen kleinen Jungen, der sich freuen würde, sie zu sehen, wenn er aufwachte.


* * *

Nach einem Monat ging Ellington zurück zur Arbeit. Direktor McGrath hatte versprochen, ihm keine tiefgründigen oder intensiven Fälle zu geben, während ein Baby und eine stillende Mutter zu Hause auf ihn warteten. Außerdem war McGrath sehr flexibel, was seine Arbeitsstunden betraf. An einigen Tagen verließ Ellington die Wohnung um acht Uhr morgens und war bereits um drei Uhr nachmittags wieder zuhause.

Mit Ellingtons Arbeitsbeginn fühlte sich Mackenzie wirklich wie eine Mutter. Sie vermisste Ellingtons Hilfe während den ersten Tagen sehr, aber es war auch etwas Besonderes, alleine mit Kevin zu sein. Sie lernte seine Routine und seine Eigenarten besser kennen. Und obwohl sie meistens auf der Couch saß, sich regenerierte und Netflix-Serien schaute, fühlte sie dennoch, wie ihre Verbindung wuchs.

Doch Mackenzie war nie jemand gewesen, der einfach so herumsitzen konnte und schon nach einer Woche fühlte sie sich ihrer Netflix-Schauerei wegen schuldig. Stattdessen nutzte sie ihre Zeit, auf der Realität basierende Kriminalgeschichten zu lesen. Sie hörte Podcasts und fand Bücher online, die sie las, um ihren Verstand auf Trab zu halten, indem sie versuchte, die Auflösungen der Fälle zu finden, bevor die Erzähler es taten.

In den ersten sechs Wochen ging sie auch zwei Mal zum Arzt, um sicherzustellen, dass ihre Kaiserschnittnarbe gut verheilte. Während die Ärzte sich freuten, wie schnell sie Fortschritte machte, konnten sie gar nicht oft genug erwähnen, welche Rückschläge eine zu zeitige Rückkehr zur Normalität haben könnte. Sie warnten sie vor den gravierenden Auswirkungen von scheinbar einfachen Tätigkeiten wie beispielsweise Bück-Bewegungen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Mackenzie wirklich gebrechlich. Das gefiel ihr nicht, aber sie hatte Kevin, auf den sie sich konzentrieren konnte. Es war ihre Aufgabe, dass er glücklich und gesund war. Wie bereits während der Schwangerschaft geplant, war es wichtig, eine Routine für ihn aufzubauen und ihn außerdem darauf vorzubereiten, von ihr getrennt zu sein, wenn er bereit für die Kita war. Sie hatte bereits eine angesehene Tagesmutter gefunden und einen Platz reserviert. Obwohl der Anbieter Kinder ab zwei Monaten annahm, hatten Mackenzie und Ellington entschieden, zu warten, bis Kevin mindestens fünf oder sechs Monate alt war. Der Platz, den sie reserviert hatten, würde freiwerden, wenn Kevin sechs Monate alt war, was Mackenzie genug Zeit verschaffte, sich nicht nur mit Kevins Entwicklung auseinanderzusetzen, sondern auch selbst für die Trennung bereit zu sein.

Solange Kevin bei ihr war, hatte sie kein Problem damit, zu warten und zu heilen. Obwohl sie es Ellington nicht übelnahm, zur Arbeit zurückgekehrt zu sein, ertappte sie sich auch ab und an dabei, sich zu wünschen, ihn bei sich zu haben. Er verpasste Kevins Lächeln, seine niedlichen kleinen Eigenheiten, die er entwickelte, sein Gurren und all die anderen Babygeräusche, die er von sich gab.

Als Kevin einen Meilenstein nach dem anderen absolvierte, dachte sie immer häufiger an den näher rückenden Übergang zur Tagespflege. Und damit auch an ihre Rückkehr zur Arbeit. Der Gedanke war aufregend, aber wenn sie ihrem Sohn in die Augen sah, wusste sie nicht, ob sie ein Leben der Gefahr, der Unsicherheit und der auf sie gerichteten Waffen führen konnte. Es schien fast schon unverantwortlich, dass sie und Ellington beide gefährliche Jobs hatten.

Die Aussicht, bald wieder arbeiten zu gehen – beim FBI oder einer anderen Arbeitsstelle mit Gefahren-Potenzial – wurde immer weniger reizvoll, je näher sie ihrem Sohn kam. Und als der Arzt ihr, nach etwas weniger als drei Monaten, die Erlaubnis gab, leichten Sport zu treiben, war sie sich nicht sicher, überhaupt wieder zum FBI zurückkehren zu wollen.




Kapitel drei





Bryce saß auf der Kante der Felswand und ließ seine Füße baumeln. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Himmel in Gold- und Orangetöne, die am Horizont immer röter wurden. Er massierte seine Hände und dachte an seinen Vater. Seine Kletter-Ausrüstung befand sich hinter ihm, eingepackt und bereit für das nächste Abenteuer. Er musste noch etwa anderthalb Kilometer wandern, bevor er seinen Wagen erreichte. Insgesamt würde er dann heute fast zehn Kilometer gelaufen sein. Doch noch dachte er nicht an seinen Wagen.

Er dachte weder an sein Auto, sein Zuhause noch seine frischgebackene Ehefrau. Sein Vater war genau vor einem Jahr gestorben und sie hatten seine Asche hier, an der südlichen Felskante des Logan’s View verstreut. Er war sieben Monate vor Bryces Hochzeit gestorben, eine Woche bevor seinem einundfünfzigsten Geburtstag.

An diesem Ort, der südlichen Felswand des Logan’s View, hatte Bryce mit seinem Vater seine erste, vollständige Erklimmung des Bergs gefeiert. Bryce hatte gewusst, dass dies nicht unbedingt als komplizierter Aufstieg gewertet wurde, aber für einen Siebzehnjährigen, der bis zu dem Zeitpunkt nur wesentlich kleinere Felswände im Grand Teton National Park bezwungen hatte, war es genau das gewesen.

Bryce wusste nicht, was an diesem Ort so besonders war und war sich auch nicht sicher, warum sein Vater genau hier seinen letzten Ruheplatz finden wollte. Es war fast ein Jahr her, seitdem Bryce und seine Mutter auf dem Kiesplatz zweieinhalb Kilometer von seinem jetzigen Sitzplatz aus geparkt hatten, um die Asche dann hier dem Wind zu Гјbergeben. Sicher, der Sonnenuntergang war hГјbsch, aber der Nationalpark bot viele nette Ausblicke.

„Ich bin zurückgekommen, Dad“, sagte Bryce. „Ich klettere immer mal wieder, aber nicht so extrem wie du es getan hast.“

Bryce lächelte und dachte an das Foto, das man ihm kurz nach der Beerdigung seines Vaters gegeben hatte. Sein Vater hatte sich am Everest versucht, aber sich bereits nach eineinhalb Tagen den Knöchel verstaucht. Er hatte in Alaska Gletscher bezwungen und eine Vielzahl unbenannter Felsformationen in den Wüsten Amerikas bestiegen. Der Mann war für Bryce wie eine Legende und genauso wollte er ihn auch in Erinnerung behalten.

Er betrachtete den Sonnenuntergang und war sich sicher, dass er seinem Vater gefallen hätte. Auch wenn dieser Sonnenuntergang, verglichen mit all denen, die er in seinen Kletterjahren von verschiedenen Aussichtspunkten aus gesehen hatte, vermutlich nichts Besonderes war.

Bryce seufzte und bemerkte, dass die Tränen, die normalerweise kamen, ausblieben. Langsam begann sich das Leben ohne seinen Dad zu normalisieren. Natürlich trauerte er noch, aber er lebte weiter. Er stand auf und drehte sich zu seinem Rucksack und seiner Kletterausrüstung um. Ruckartig blieb er stehen und betrachtete alarmiert den Mann, der direkt hinter ihm stand.

„Tut mir leid“, sagte der Mann, der nicht mal einen Meter von ihm entfernt war.

Wie zum Teufel habe ich ihn nicht gehört? Bryce war verwirrt. Er muss sich sehr leise und bewusst bewegt haben. Hat er vorgehabt, sich an mich heranzuschleichen? Mich zu beklauen? Meine Ausrüstung zu stehlen?

„Kein Problem“, sagte Bryce und entschied sich dazu, den Mann zu ignorieren. Er war etwa Anfang dreißig, ein dünner Bartflaum bedeckte sein Kinn und er trug eine Beanie-Mütze auf dem Kopf.

„Netter Sonnenuntergang, hm?“, fragte der Mann.

Bryce hob seine Tasche auf, schnallte sie sich auf den Rücken und begann, sich zu bewegen. „Ja, auf jeden Fall“, antwortete er.

Er ging auf den Mann zu, mit der Absicht, ihn zu passieren, ohne weiter auf ihn einzugehen. Doch der Mann blockierte seinen Weg mit dem Arm. Als Bryce versuchte, darum herumzugehen, packte der Mann ihn am Arm und stieГџ ihn nach hinten.

Als er zurГјck stolperte, war Bryce sich der Leere, die nur eineinhalb Meter hinter ihm wartete, sehr wohl bewusst. Hundertzwanzig Meter Tiefe.

Bryce hatte in seinem Leben erst einmal einen Schlag abgesondert und das war in der zweiten Klasse gewesen, als ein Idiot ihm auf dem Spielplatz einen albernen Deine-Mutter-Witz erzählt hatte. Doch Bryce ballte seine Faust und war bereit, zu kämpfen, wenn er es musste.

„Was ist dein Problem?“, fragte Bryce.

„Schwerkraft“, sagte der Mann.

Dann bewegte er sich. Es war kein Schlag, sondern vielmehr eine Wurfbewegung. Bryce hob sein Handgelenk hoch, um den Wurf zu blockieren, als er realisierte, was der Mann in der Hand gehalten hatte. Er sah das goldene Glitzern des Sonnenuntergangs, der sich auf der metallenen Oberfläche spiegelte.

Ein Hammer.

Er traf seine Stirn hart genug, um ein Geräusch zu machen, dass für Bryce klang, als stamme es aus einem Cartoon. Doch der Schmerz, der folgte, war weder lustig noch komisch. Er blinzelte benommen, machte einen Schritt nach hinten, während jeder Muskel in seinem Körper versuchte, ihn daran zu erinnern, dass es hinter ihm hundertzwanzig Meter in die Tiefe ging.

Doch seine Muskeln waren langsam und der unverblümte Angriff auf seine Stirn schickte einen blindmachenden Schmerz durch seinen Kopf und ein betäubendes Gefühl Richtung Rücken.

Bryce fiel in sich zusammen und auf die Knie. In dem Moment trat der Mann Bryce genau gegen die Brust.

Bryce spürte den Aufprall kaum. Sein Kopf stand in Flammen. Doch der Tritt beförderte ihn weiter nach hinten. Er kam hart genug auf dem Boden auf, prallte ab und flog dann noch ein Stück weiter.

Sofort spГјrte er, wie die Schwerkraft an ihm riss. Doch er konnte noch immer nicht begreifen, was genau geschehen war.

Sein Herz raste und sein schmerzender Kopf schaltete in den Panikmodus über. Er versuchte zu atmen, als seine Muskeln übernahmen und seine Arme wild um sich schlugen, um sich an irgendetwas festhalten zu können.

Doch da war nichts. Nur Luft und der Wind, der in seinen Ohren zischte. Sekunden später dann die kurze Schmerzexplosion, als er auf die harte Erde traf. Mit seinem letzten Atemzug sah er die rote Felswand, die er gerade bestiegen hatte und seinen letzten Sonnenuntergang.




Kapitel vier


Was sich zuerst paradiesisch angefühlt hatte, wurde immer mehr zu einer Art Gefängnis. Während sie ihren Sohn mehr liebte, als sie es je in Worte fassen könnte, fiel Mackenzie langsam die Decke auf den Kopf. Gelegentlich durch die Nachbarschaft zu spazieren reichte ihr einfach nicht mehr. Als der Arzt ihr die Erlaubnis gab, leichte Sport-Übungen zu absolvieren und sie damit begann, ihren Schritt bei ihren Spaziergängen zu beschleunigen, dachte sie sofort daran, joggen zu gehen oder auch leichte Gewichte zu heben. Sie war, zum ersten Mal in über fünf Jahren, nicht in Form. Die Bauchmuskeln, auf die sie einmal so stolz gewesen war, waren unter Narbengewebe und einem ungewohnten Fettpolster verschwunden.

In einem Moment der Schwäche, als sie eines Abends die Dusche verließ, begann sie unkontrolliert zu schluchzen. Als pflichtbewusster und liebender Ehemann kam Ellington natürlich sofort angerannt und fand sie im Badezimmer, wo sie gegen das Waschbecken gelehnt stand.

„Mac, was ist los? Bist du okay?“

„Nein. Ich heule. Ich bin nicht okay. Ich heule wegen albernem Scheiß.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel wegen dem Körper, den ich gerade im Spiegel gesehen habe.“

„Oh, Mac … hey, erinnerst du dich daran, mir vor einigen Wochen vorgelesen zu haben, dass du bald damit anfangen würdest, wegen willkürlichen Dingen zu weinen? Ich denke, dieser Moment gehört dazu.“

„Die Kaiserschnittnarbe wird für den Rest meines Lebens zu sehen sein. Und das Gewicht … es wird nicht leicht, das wieder loszuwerden.“

„Und warum stört dich das?“, fragte er. Er war nicht streng oder hart, verhätschelte sie aber auch nicht. Ihr wurde wieder einmal klar, wie gut er sie kannte.

„Es sollte mich nicht stören. Und ehrlich gesagt denke ich, dass meine Heulerei einen anderen Grund hat. Der Anblick meines Köpers war lediglich ein Auslöser.“

„Mit deiner Körper ist alles in Ordnung.“

„Das musst du sagen.“

„Nein, das tue ich nicht.“

„Wie kannst du diesen Anblick wollen?“

Er lächelte sie an. „Oh, das ist kein Problem. Hör zu … Ich weiß, dass der Arzt dir ein leichtes Sportprogramm erlaubt hat. Und wenn du mich einfach die ganze Arbeit machen lässt …“

Er blickte anspielend durch die BadezimmertГјr ins Schlafzimmer hinГјber.

„Was ist mit Kevin?“

„Mittagsschlaf“, antwortete er. „Er wird aber vermutlich in ein oder zwei Minuten aufwachen. Aber da unser letztes Mal schon über drei Monate her ist, glaube ich nicht, dass ich allzu lange brauchen werde.“

„Idiot.“

Er antwortete mit einem Kuss. Nicht nur, um ihr das Wort abzuschneiden, sondern auch, um ihre Komplexe in Luft aufzulösen. Er küsste sie langsam und innig und sie konnte die drei Monate spüren, die sich in ihm aufgestaut hatten. Er führte sie zärtlich ins Schlafzimmer und übernahm, wie versprochen, die ganze Arbeit. Vorsichtig und gekonnt.

Kevins Timing war perfekt, drei Minuten später wachte er auf. Als sie gemeinsam ins Babyzimmer gingen, kniff Mackenzie ihm in den Po. „Ich glaube, das war mehr als ein leichtes Sportprogramm.“

„Fühlst du dich okay?“

„Ich fühle mich außergewöhnlich gut“, sagte sie. „So gut, dass ich vorhabe, heute Abend ins Fitnessstudio zu gehen. Kannst du auf den kleinen Mann aufpassen, wenn ich für eine Weile verschwinde?“

„Natürlich. Aber übertreibe es nicht.“

Das reichte, um Mackenzie zu motivieren. Sie machte nie nur halbe Sachen und dazu gehörte für sie sowohl Sport als auch das Muttersein. Vielleicht fühlte sie sich deshalb, drei Monate nach der Geburt Kevins, etwas schuldig, ihn zum ersten Mal alleine zu lassen. Natürlich war sie auch zuvor schon zum Supermarkt oder Arzt gegangen. Aber zum ersten Mal verließ sie das Haus mit der Absicht, länger als eine Stunde weg zu sein.

Kurz nach acht machte sie sich auf den Weg zum Fitnessstudio, das sich bereits sichtlich geleert hatte. Es war dasselbe Studio, das sie besucht hatte, als sie beim FBI anfing und sich noch nicht auf die eigenen Einrichtungen ihrer Arbeitsstelle verlassen hatte. Es fühlte sich gut an, zurück zu sein. Wie jeder andere Bürger der Stadt auch benutzte sie das Laufband, kämpfte sich mit den überholten Elastikbändern ab und trainierte einfach nur, um aktiv zu bleiben.

Nach nur einer halben Stunde begann ihr Bauch zu schmerzen. Sie hatte auГџerdem einen starken Krampf in ihrem rechten Bein, den sie nicht loswerden konnte. Nach einer kurzen Pause versuchte sie sich erneut am Laufband und entschied sich dann dazu, fГјr heute Schluss zu machen.

Denk nicht mal daran, hart mit dir ins Gericht zu gehen, dachte sie. Aber es war Ellingtons Stimme, die sie in ihrem Kopf hörte. Du hast einen Menschen in dir beherbergt, der dann aus dir herausgeschnitten wurde. Du kannst nicht wie Superwoman einfach weitermachen, wo du aufgehört hast. Gib dir Zeit.

Sie hatte geschwitzt und das reichte ihr. Also ging sie zurück nach Hause, duschte und fütterte Kevin. Er war so zufrieden, dass er während dem Stillen einschlief. Die Ärzte hatten zwar davon abgeraten, aber sie erlaubte es ihm und hielt ihn an sich gedrückt bis auch sie müde wurde. Als sie ihn hinlegte, saß Ellington am Küchentisch und arbeitete an einer Fallrecherche.

„Alles okay?“, fragte er, als sie zurück ins Wohnzimmer ging.

„Ja. Ich glaube, ich habe es im Studio ein bisschen übertrieben und mir tut alles weh. Müde bin ich auch.“

„Kann ich etwas tun?“

„Nein. Aber vielleicht kannst du mir morgen früh wieder mit einem leichten Sportprogramm aushelfen?“

„Sehr gerne, Ma’am“, sagte er lächelnd über seinen Laptopbildschirm hinweg.

Auch sie lächelte, als sie zu Bett ging. Ihr Leben war erfüllt und ihre Beine schmerzten – ihre Muskeln erinnerten sich daran, wozu sie einst gebraucht wurden. Eine Minute späte döste sie erschöpft ein,

Sie hatte nicht erwartet, wieder von dem riesigen Maisfeld, ihrer Mutter und dem Baby zu träumen.

Ebenso wenig hatte sie nicht damit gerechnet, wie sehr es sie dieses Mal mitnehmen wГјrde.


* * *

Der Albtraum weckte sie auf und dieses Mal schrie sie. Sie setzte sich so abrupt auf, dass sie fast von der Matratze fiel. Neben ihr wachte auch Ellington besorgt auf.

„Mackenzie … was ist los? Bist du okay?“

„Nur ein Albtraum, das ist alles.“

„Es klang furchtbar. Möchtest du darüber reden?“

Mit klopfendem Herzen ließ sie sich wieder zurückfallen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, den Dreck des Albtraums in ihrem Mund schmecken zu können. „Nicht unbedingt. Es ist nur … ich glaube, ich muss meine Mutter sehen. Ich muss ihr von Kevin erzählen.“

„Macht Sinn, denke ich“, sagte Ellington und war sichtlich erstaunt, welchen Einfluss der Traum auf sie gehabt hatte.

„Wir können später darüber sprechen“, sagte sie, als der Schlaf wieder an ihr riss. Die Bilder des Traums waren noch immer da, aber sie wusste, dass ihr eine lange Nacht bevorstand, wenn sie nicht bald wieder einschlief.

Mehrere Stunden später weckte Kevins Weinen sie auf. Ellington wollte gerade aufstehen, als sie ihre Hand auf seine Brust legte. „Ich mach schon“, sagte sie.

Ellington wehrte sich nicht. Sie waren dabei, langsam einen relativ normalen Schlaf-Rhythmus zu finden und keiner von ihnen hatte vor, diesen auf die Probe zu stellen. Außerdem hatte er ein Meeting am Morgen – es ging um einen neuen Fall, den er mit einem Überwachungsteam anführen sollte. Er hatte ihr beim Abendessen davon erzählt, aber sie war mit ihren Gedanken woanders gewesen. In letzter Zeit war ihr Fokus zerstreut und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, vor allem, wenn Ellington von der Arbeit sprach. Sie vermisste es, selbst zu arbeiten und war eifersüchtig, konnte es aber noch nicht ganz übers Herz bringen, Kevin alleine zu lassen. Egal, wie gut die Kita auch sein mochte.

Mackenzie ging ins Babyzimmer und nahm Kevin aus seiner Krippe. Er war mittlerweile soweit, meistens sofort mit dem Weinen aufzuhören, sobald ein Elternteil ihn hochnahm. Er wusste, dass er bekommen würde, was er brauchte und hatte bereits gelernt, seinen eigenen kleinen Instinkten zu vertrauen. Mackenzie wickelte ihn, setzte sich dann auf den Schaukelstuhl und stillte ihn.

Ihre Gedanken wanderten zu ihren eigenen Eltern. Sie konnte sich selbstverständlich nicht daran erinnern, selbst gefüttert zu werden. Aber der bloße Gedanke, dass ihre Mutter sie einst gestillt hatte, war unvorstellbar. Doch sie wusste auch, dass Mutterschaft einen ganz neuen Filter mit sich brachte, der die Perspektive auf das Leben veränderte. Vielleicht war der Filter ihrer Mutter verzerrt gewesen und mit dem Tod ihres Ehemanns vollkommen zerstört worden.

War ich ihr gegenГјber zu streng?

Während Mackenzie Kevin stillte, dachte sie lange und angestrengt über ihre Zukunft nach. Nicht nur die der nächsten Woche, wenn ihr Mutterschutz zu Ende ging, sondern auch die der nächsten Monate und Jahre und wie sie diese verbringen wollte.




Kapitel fГјnf


Langsam begann Mackenzie, wieder in ihre normale Kleidung zu passen. Wiederholte Besuche im Fitnessstudio gaben ihr außerdem das Gefühl, als wäre es nicht so schwer wie gedacht, ihre Form zurückzugewinnen. Ihre OP-Narben waren fast vollkommen verheilt und sie erinnerte sich daran, wie ihr Leben gewesen war, bevor sie ihren Körper dem Wachstum und der Entwicklung ihres Sohnes geliehen hatte.

Als sich Mackenzies Mutterschutzurlaub dem Ende entgegen neigte, begann sie zu verstehen, dass es nicht leicht sein würde, wieder zurück in den Arbeitsalltag zu finden. Doch noch vor ihrem Start wollte sie die Angelegenheit mit ihrer Mutter klären. Seit ihrem letzten Albtraum hatte sie das Thema mit Ellington immer wieder besprochen, dabei aber sichergestellt, sich nicht festzulegen. Schließlich war es unnatürlich für sie, einen so starken Wunsch zu hegen, ihre Mutter zu sehen. Für gewöhnlich mied sie jegliche Interaktion mit ihr.

Doch jetzt, acht Tage vor dem Ende ihres Mutterschutzes, musste sie eine Entscheidung treffen. Kevin war ihre Hauptausrede gewesen, den Trip nicht zu machen, aber er war nun bereits seit einer Woche in der Kita und schien mit der Umstellung gut klarzukommen.

Innerlich hatte sie sich bereits entschieden. Sie saß an der Theke zwischen Küche und Wohnzimmer und war sich sicher, ihre Mutter aufsuchen zu wollen. Tatsächlich Nägel mit Köpfen zu machen war jedoch schwerer, als lediglich die Idee zu akzeptieren.

„Kann ich dich etwas fragen? Auch wenn es dumm klingt?“, frage Ellington.

„Natürlich.“

„Was kann schlimmstenfalls passieren? Du gehst hin, es ist komisch und du erreichst nichts. Also kommst du zurück zu deinem glücklichen Baby, deinem unglaublich sexy Ehemann und machst mit deinem Leben weiter.“

„Vielleicht habe ich Angst, dass es nicht komisch ist?“, meinte Mackenzie.

„Dessen bin ich mir nicht so sicher.“

„Was, wenn das Treffen gut verläuft und sie ein Teil meines Lebens sein möchte? Unseres Lebens.“

Kevin saГџ in seiner Babywippe und starrte auf das kleine Meerestiermobile, das vor ihm befestigt war. Mackenzie sah ihn an, als sie redete und versuchte verzweifelt, nicht an das Bild ihrer Mutter im verfluchten Schaukelstuhl zu denken.

„Würdest du alleine mit Kevin klarkommen?“, fragte sie.

„Natürlich, wir Männer schaffen das schon.“

Mackenzie lächelte. Sie versuchte, sich Ellington vorzustellen, wie er vor zweieinhalb Jahren gewesen war, als sie ihn kennengelernt hatte. Aber es schwer. Er war nun so viel reifer, gleichzeitig aber auch verletzlicher im Umgang mit ihr. Damals hätte er sich nie so fürsorglich oder auch albern gezeigt.

„Dann werde ich es tun. Zwei Tage, nicht länger. Und das auch nur, damit ich nicht nur unterwegs bin.“

„Ja, nimm dir ein Motelzimmer. Ein gutes, mit Hot Tub im Zimmer. Schlaf aus. Nachdem du die letzten Monate damit verbracht hast, das Muttersein zu lernen und deinen Schlafrhythmus kontinuierlich zu verändern, hast du dir das verdient.“

Seine Ermutigungen waren ernst gemeint und auch wenn er nichts sagte, war sie sich ziemlich sicher, den Grund dafür zu kennen. Er hatte sozusagen jegliche, normale Großeltern-Situation auf seiner Seite der Familie aufgegeben. Wenn sie es also schaffte, die Probleme mit ihrer Mutter aus dem Weg zu räumen, hätte Kevin möglicherweise zumindest ein mehr oder weniger normales Großelternteil. Sie wollte mit ihm darüber sprechen, entschied sich aber dagegen. Vielleicht nach ihrem Trip, wenn sie wusste, ob er erfolgreich gewesen war oder nicht.

Sie nahm ihren Laptop, setzte sich auf die Couch und kaufte ihre Tickets. Als sie ihre Informationen eingegeben und den letzten Mausklick betätigt hatte, fühlte sie, wie ihr eine Last von den Schultern genommen wurde. Sie klappte den Laptop zu und seufzte. Dann betrachtete sie Kevin, der noch immer in seiner Wippe saß und lächelte ihn fröhlich, ja fast schon übermütig, an. Er belohnte sie mit einem langsamen Lächeln.

„Okay“, sagte sie und blickte zu Ellington. Er war noch immer in der Küche und räumte die Reste des Abendessens auf. „Tickets sind gekauft. Mein Flug geht morgen früh um halb zwölf. Kannst du den kleinen Mann von der Kita abholen?“

„Ja. Und damit beginnen dann unsere zwei Tage des liederlichen Männerdaseins. Ich fürchte, danach wird nichts wieder so sein wie zuvor.“

Sie wusste, dass er versuchte, sie zum positiven Denken anzuregen. Es half – ein bisschen – aber ihre Gedanken wanderten bereits weiter. Es gab noch etwas, was sie in Angriff nehmen wollte, bevor sie DC verließ.

„Weißt du was“, sagte sie. „Könntest du ihn auch bei der Kita absetzen? Ich denke, ich sollte mit McGrath sprechen.“

„Hast du auch diesbezüglich eine Entscheidung getroffen?“

„Ich weiß es nicht. Ich will zurück. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich sonst mit meinem Leben anfangen soll. Aber … ich bin jetzt eine Mom … und ich möchte Kevin das geben, was ich selbst nie hatte, verstehst du? Und mit uns beiden als FBI Agenten … wie würde sein Leben dann aussehen?“

„Das ist ein schweres Thema“, sagte er. „Ich weiß, dass wir schon darüber gesprochen haben, aber ich denke nicht, dass dies eine Entscheidung ist, die du jetzt treffen musst. Du hast aber Recht – rede mit McGrath darüber. Man weiß nie, was der Mann denkt. Vielleicht hat er eine Lösung. Vielleicht … ich weiß nicht … vielleicht eine andere Rolle?“

„Du meinst, keine Agentin mehr?“

Ellington zuckte mit den Schultern und ging zu ihr hinüber. „Ich kann verstehen, was du gerade durchmachst“, sagte er und nahm ihre Hand. „Ich kann mir dich auch nicht in einer anderen Rolle vorstellen.“

Sie lächelte und hoffte, dass er wusste, wie gut er darin war, das Richtige zu sagen. Es war der Auftrieb, den sie gebraucht hatte, um McGrath nach Feierabend anzurufen. Das hatte sie in ihrer Karriere noch nicht oft gemacht – noch nie, wenn es nicht um einen Fall ging – aber sie spürte plötzlich die Dringlichkeit der Situation.

Und die wurde noch stärker, als sie dem Klingeln lauschte.


* * *

Sie erwartete, McGrath verärgert vorzufinden, sich zu einer so frühen Stunde mit ihr treffen zu müssen. Doch als sie sein Büro um acht Uhr morgens betrat, war seine Tür bereits offen und McGrath saß hinter seinem Schreibtisch. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand und blätterte durch die Tagesmeldungen. Als sie eintrat, blickte er auf und das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte ehrlich.

„Agent White, wie schön Sie zu sehen“, sagte er.

„Gleichfalls“, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.

„Sie sehen gut aus. Hat sich das Baby endlich einen normalen Schlafrhythmus angeeignet?“

„Normal genug“, sagte sie und fühlte sich seltsam. McGrath war nicht der Typ für Small Talk. Die Vorstellung, dass er tatsächlich froh war, sie zu sehen, kam ihr kurz in den Sinn und der Grund für ihr Treffen verschaffte ihr fast schon Schuldgefühle.

„Okay. Sie haben um dieses Meeting gebeten und wir haben etwa dreißig Minuten bis zu meinem nächsten“, sagte er. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Nun, mein Mutterschutzurlaub endet nächsten Montag. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich bereit bin, zurückzukommen.“

„Sind die Gründe körperlicher Natur?“, fragte er. „Ich weiß, dass die Heilung nach einem Kaiserschnitt langwierig und erschöpfend sein kann.“

„Nein, daran liegt es nicht. Die Ärzte haben mir grünes Licht gegeben. Aber, um ehrlich zu sein, bin ich hin und her gerissen, was ich tun soll.“ Das brennende Gefühl von Tränen in ihren Augenwinkeln alarmierte sie.

Scheinbar sah auch McGrath sie und fühlte mit ihr. Er gab sein Bestes, sich so natürlich wie möglich zu benehmen, als er sich nach vorne beugte. Er sah zur Seite, um ihr die Gelegenheit geben, die Tränen wegzuwischen, bevor sie sich lösten.

„Agent White, ich arbeite seit fast dreißig Jahren für das FBI. In meiner Zeit hier habe ich unzählige weibliche Agentinnen gesehen, die geheiratet haben und Kinder bekamen. Einige von ihnen haben das FBI verlassen oder zumindest eine weniger riskante Stellung angenommen. Ich kann nicht hier sitzen und Ihnen sagen, dass ich verstehe, was Sie durchmachen, denn das wäre eine Lüge. Aber ich habe es gesehen. Manchmal haben uns Agenten verlassen, von denen ich es nie erwartet hätte. Ist das auch die Richtung, die Sie einschlagen möchten?“

Sie nickte. „Ich möchte zurückkommen. Ich vermisse es – mehr als ich zugeben möchte. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich will. Vielleicht ein paar Wochen mehr? Ich weiß, damit bitte ich um eine Art Sonderbehandlung oder so, aber ich kann diese Entscheidung gerade einfach nicht treffen.“

„Ich kann Ihnen maximal eine weitere Woche geben. Wenn Sie diese möchten. Oder Sie kommen zurück und ich finde einen Schreibtischjob für Sie. Recherche, Nummern, Handy-Überwachung, so etwas. Würde Sie das interessieren?“

Ehrlich gesagt interessierte sie nichts davon. Aber es war besser als nichts. Und McGrath gab ihr den Beweis dafГјr, dass sie Optionen hatte.

„Vielleicht“, sagte sie.

„Nehmen Sie sich das Wochenende und denken Sie darüber nach. Vielleicht ein Kurztrip, um Ihre Gedanken zu sortieren.“

„Oh, das habe ich tatsächlich vor. Ich werde Nebraska einen Besuch abstatten.“

Sie war sich nicht sicher, warum sie ihm das erzählte und fragte sich, ob es immer so einfach gewesen war, mit McGrath zu sprechen. War seine Aura aufgeweicht und er dadurch zugänglicher geworden? Es war komisch. Sie war nur mehrere Monate weggewesen und McGrath wirkte plötzlich wie ein anderer Mensch – fürsorglicher, freundlicher.

„Das ist schön zu hören. Und Ellington bleibt alleine mit dem Baby zurück? Ist das nicht etwas mutig?“

„Ich weiß es nicht“, sagte sie lächelnd. „Er scheint sich drauf zu freuen.“

McGrath nickte höflich, aber es war offensichtlich, dass seine Gedanken woanders waren. „White … haben Sie um dieses Gespräch gebeten, um meinen Rat zu erhalten? Oder wollten Sie herausfinden, wie ich reagiere, wenn Sie sich dazu entschieden, uns tatsächlich zu verlassen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht beides?“

„Nun, ich kann zweifellos sagen, dass ich es bevorzugen würde, wenn Sie bleiben. Ihre Bilanz spricht für sich selbst und auch wenn ich es nur ungern zugebe, sind Ihre Instinkte fast schon übernatürlich. In meiner Zeit beim FBI habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Ich glaube, es wäre eine absolute Verschwendung, wenn Sie Ihre Karriere so jung aufgeben würden. Andererseits habe auch ich zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Sie sind beide erwachsen, aber sie großzuziehen war eine der besten und lohnendsten Erfahrungen meines Lebens.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Kinder haben“, sagte sie.

„Ich rede bei der Arbeit nicht gerne von meinem Privatleben. Doch in einem Fall wie diesem, wenn etwas so Kostbares wie ihre Karriere auf dem Spiel steht, stört es mich nicht, Ihnen ein paar Einblicke hinter die Kulissen zu geben.“

„Das weiß ich zu schätzen.“

„Also … Genießen Sie Ihr Wochenende. Sollen wir uns am Montag zusammensetzen und besprechen, wie es weitergeht?“

„Das klingt gut“, sagte sie. Doch Montag fühlte sich noch sehr weit weg an. Denn als sie aufstand, wusste sie, dass ihr nächster Stopp der Flughafen sein würde. Und dann Nebraska.

Als sie das FBI-Quartier verlieГџ, hatte sie das GefГјhl, sich selbst eine Falle zu stellen. Die meisten Menschen fГјhlten sich von den Geistern ihrer Vergangenheit verfolgt. Aber als sie sich darauf vorbereitete, nach Nebraska zurГјckzukehren, um ihre Mutter zu treffen, hatte Mackenzie das GefГјhl, die Geister nicht nur aufzuwecken, sondern ihnen auch jede Menge Gelegenheit zu geben, sich von ihnen verfolgen zu lassen.




Kapitel sechs


Es war dreizehn Uhr fünfzehn Nebraska-Zeit, als ihr Flugzeug in Lincoln landete. Sie hatte den Flug hauptsächlich damit verbracht, den Trip zu planen. Aber erst als die Räder auf der Landebahn quietschten, wusste sie, dass sie es einfach hinter sich bringen musste. Danach konnte sie sich noch immer auf die Nacht im Luxushotel freuen, das sie bereits gebucht hatte.

Mithilfe des FBIs hatte sie (auf mehr oder weniger zwielichtige Art und Weise) herausgefunden, dass ihre Mutter noch immer dort arbeitete, wo sie es vor etwa einem Jahr getan hatte, als sie sich zum letzten Mal über den Weg liefen. Sie war ein Teil der Putzkolonne des Holiday Inns in der Kleinstadt Boone’s Mill, die wiederum nur zwei Stunden von Belton entfernt lag – der kleinen Stadt, wo sie aufgewachsen war und der sie ebenfalls einen Besuch abstatten wollte.

Zwanzig Minuten später wartete sie in der Autovermietung des Flughafens auf einen Wagen. Sie wusste, dass nur eine halbe Stunde entfernt das Gebäude lag, in dem sie ihre Karriere begonnen hatte. Sie dachte an den Mann, mit dem sie fast drei Jahre lang zusammengearbeitet hatte, bevor das FBI sich um sie bemühte. Ein Mann namens Walter Porter, der ihr, trotz seinem tiefsitzenden Sexismus und seiner Abneigung, mit einer Frau zusammenarbeiten zu müssen, viel darüber beigebracht hatte, was es bedeutete, ein effektiver Gesetzeshüter zu sein. Was er wohl mittlerweile trieb? Vermutlich war er inzwischen in Rente. Aber da sie sich in der Nähe des Reviers befand, überkam sie der Wunsch, sich auch mit ihm zu treffen.

Eins nach dem anderen, dachte sie, als sie von der griesgrämigen Frau hinter dem Tresen die Autoschlüssel erhielt.

Sobald sie auf der Straße war, zog Mackenzie die Nummer des Holiday Inns heraus, in dem ihre Mutter arbeitete, um sicherzugehen, dass sie Dienst hatte. Es stellte sich heraus, dass ihre Schicht in einer halben Stunde endete. Mackenzie würde also das Zeitfenster, in dem sie ihre Mutter am Hotel treffen konnte, um eine Stunde verpassen. Das war nicht weiter tragisch – Mackenzie hatte auch die Wohnadresse ihrer Mutter.

Sie war überrascht, als sie bemerkte, wie beruhigend das flache Land und die vertraute Atmosphäre Nebraskas auf sie wirkte. Das bevorstehende Treffen mit ihrer Mutter machte sie weder nervös noch ängstlich. Lediglich Kevin vermisste sie, als sie das offene Land und den Himmel betrachtete. Sie realisierte, dass sie noch nie so lange von ihm getrennt gewesen war und ihr wurde schwer ums Herz. Für einen Moment hatte sie Probleme, zu atmen. Doch dann dachte sie an Ellington und Kevin, zusammen in ihrer Wohnung, während der Tag sich dem Ende entgegen neigte. Ellington war ein hervorragender Vater und überraschte sie noch immer täglich damit. Sie begann zu verstehen, dass Ellington diese Zeit alleine mit seinem Sohn vermutlich genauso sehr brauchte, wie sie zurück in ihre Vergangenheit reisen musste, um die Situation mit ihrer Mutter zu klären.

Wenn alle Eltern diese GefГјhle mitmachen, habe ich meiner Mutter das Leben vielleicht zu schwer gemacht, dachte sie.

Obwohl ihr seit dem Betreten des Flugzeugs in DC viel durch den Kopf gegangen war, war es dieser Gedanke, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie wusste, dass ihr Vater seine eigenen Dämonen hatte bekämpfen müssen, doch ihre Mutter hatte vor ihr oder Stephanie nie schlecht von ihm gesprochen. Schließlich wurde sie als Witwe zurückgelassen und musste alleine zwei Mädchen großziehen. Es war sehr gut möglich (und Mackenzie hatte auch schon zuvor darüber nachgedacht), dass sie so große Stücke auf ihren Vater gehalten hatte, weil er so früh verstorben war. Als junges Mädchen hatte sie keinen Grund gehabt, in ihm etwas anderes als ihren persönlichen Helden zu sehen. Aber was ist mit der Mutter, die versuchte, zwei Mädchen großzuziehen, dabei versagte und damit nicht nur die Verachtung der Gesellschaft, sondern auch die ihrer eigenen Töchter auf sich gezogen hatte?

Mackenzie brachte ein schmales Lächeln zustande, während sie sich die Tränen wegwischte. Sie fragte sich, ob ihr diese Gedanken nun kamen, wo sie selbst Mutter war. Sie hatte davon gehört, dass Frauen viele Aspekte ihres Wesens veränderten, sobald sie ein Kind in die Welt setzten. Aber ihr war nie in den Sinn gekommen, dass sie davon betroffen sein könnte. Doch sie war der lebende Beweis der Theorie, als ihr Herz sich für eine Frau öffnete, die sie für den Großteil ihres Lebens sozusagen dämonisiert hatte.

Während Nebraska an ihr vorbeizog, drang Mackenzie immer weiter in ihre Vergangenheit ein. Zum ersten Mal, seitdem sie den Bundesstaat verlassen hatte, war sie fast schon gierig darauf, diese Vergangenheit zu betreten und herauszufinden, was dort auf sie wartete.


* * *

Patricia White lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung knapp zehn Kilometer von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Die Wohnung befand sich in einem kleinen Gebäude, das nicht gerade verwahrlost war, aber definitiv etwas Aufmerksamkeit hätte gebrauchen können. Mackenzie hielt ihr Handy in der Hand und betrachtete Adresse und Hausnummer auf dem Bildschirm, die sie mithilfe von inoffiziellen FBI-Quellen herausgefunden hatte.

Sie ging auf die Wohnung ihrer Mutter im zweiten Stock zu. Anders als erwartet erstarrte sie nicht. Ohne zu zögern klopfte sie an der Tür und versuchte, nicht zu viel nachzudenken. Die einzige wirkliche Frage, die sich ihr stellte, war, wie sie die Konversation beginnen sollte. Sie wollte behutsam vorgehen, anstatt ins kalte Wasser zu springen und wie ein Hund herum zu paddeln.

Nach einigen Sekunden hörte sie Schritte. Die Tür öffnete sich und sie sah das überraschte Gesicht ihrer Mutter. Dann erstarrte Mackenzie. Sie war sich nicht sicher, wann sie ihre Mutter zum letzten Mal lächeln gesehen hatte und Mackenzie hatte das Gefühl, eine fremde Frau vor sich zu haben.

„Mackenzie“, sagte ihre Mutter mit dünner und aufgeregter Stimme. „Oh mein Gott, was machst du denn hier?“

„Ich hatte frei und wollte hallo sagen.“ Es war nicht gelogen und fürs erste vermutlich ausreichend.

„Und du wolltest mich nicht anrufen und vorwarnen?“

Mackenzie zuckte mit den Schultern. „Ich habe daran gedacht, wusste aber, wie es ausgehen würde. Außerdem … musste ich einfach mal raus.“

„Geht es dir gut?“ Sie klang ehrlich besorgt.

„Ja, Mom.“

„Nun, dann komm rein. Die Wohnung ist das reinste Chaos, aber ich hoffe, du kannst darüber hinwegsehen.“

Mackenzie betrat die Wohnung und sah, dass sie absolut nicht chaotisch, sondern sogar ziemlich aufgeräumt war. Ihre Mutter hatte nur minimalistisch dekoriert und Mackenzie entdeckte sofort das alte Bild von ihr und Stephanie, das auf dem kleinen Beistelltisch neben der Couch stand.

„Wie geht es dir, Mom?“

„Gut. Sehr gut sogar. Ich war in der Lage, hier und da etwas Geld zu sparen und habe es endlich geschafft, aus den Schulden rauszukommen. Bei der Arbeit wurde ich befördert … es ist immer noch kein Spitzen-Job, aber ich verdiene besser und habe einige Frauen unter mir. Wie geht es dir?“

Mackenzie setzte sich auf die Couch und hoffte, ihre Mutter würde es ihr gleichtun. Sie war dankbar, als sie es tat. Sie hatte noch nie an den Satz ‚vielleicht solltest du dich besser setzen� geglaubt; er erschien ihr viel zu dramatisch.

„Nun, ich habe tatsächlich ein paar Neuigkeiten“, sagte sie. Sie begann langsam, das Fotoalbum auf ihrem Handy zu öffnen und nach einem bestimmten Bild zu suchen. „Du weißt, dass Ellington und ich geheiratet haben, nicht wahr?“

„Ja. Lustig, dass du ihn noch immer bei seinem Nachnamen nennst. Hat das damit zu tun, dass ihr Kollegen seid?“

Mackenzie schmunzelte. „Ja, vermutlich. Bist du böse, die Hochzeit verpasst zu haben?“

„Oh nein. Ich hasse Hochzeiten. Das war vermutlich die schlauste Entscheidung, die du je getroffen hast.“

„Danke“, sagte sie. Ihre Nerven kochten wie Lava, als sie aussprach, weshalb sie wirklich gekommen war. „Ich bin hier, weil ich dir etwas anderes mitteilen möchte.“

Dann hielt sie ihr Handy nach oben. Ihre Mutter nahm es ihr ab und betrachtete das Foto von Kevin in seiner kleinen Krankenhausdecke, zwei Tage bevor sie die Klinik verlassen hatten.

„Ist das …?“, fragte Patricia.

„Du bist Oma, Mom.“

Die Tränen ließen nicht auf sich warten. Patricia ließ das Handy auf die Couch fallen und legte sich die Hand auf den Mund. „Mackenzie … er ist entzückend.“

„Das ist er.“

„Wie alt ist er? Du siehst zu gut aus, ihn gerade erst auf die Welt gebracht zu haben.“

„Etwas über drei Monate“, sagte Mackenzie. Sie blickte zur Seite, als sie das verletzte Zucken im Gesicht ihrer Mutter entdeckte. „Ich weiß. Es tut mir leid. Ich wollte dich anrufen, um dir Bescheid zu geben. Aber nach unserem letzten Gespräch … Mom, ich wusste nicht einmal, ob du es wissen wollen würdest.“

„Das verstehe ich“, sagte sie sofort. „Und es bedeutet mir alles, dass du jetzt hier bist, um es mir persönlich zu sagen.“

„Du bist nicht verärgert?“

„Gott, nein. Mackenzie … selbst, wenn du mir nie davon erzählt hättest, würde ich den Unterschied vermutlich nicht kennen. Ich denke, ich habe mich sogar schon darauf vorbereitet, dich nie wieder zu sehen und … und ich …“

„Es ist okay, Mom.“

Sie wollte ihre Hand ausstrecken, sie halten oder in den Arm nehmen. Aber sie wusste, dass sich das fГјr beide erzwungen und seltsam anfГјhlen wГјrde.

„Ich habe letzte Woche einen neuen Mixer gekauft“, sagte ihre Mutter wie aus dem Nichts.

„Ähem … okay.“

„Magst du Margaritas?“

Mackenzie lächelte und nickte. „Oh, ja. Ich habe seit einem Jahr keinen Alkohol mehr getrunken.“

„Stillst du? Darfst du trinken?“

„Das tue ich, aber wir haben genug Milch auf Vorrat eingefroren.“

Ihre Mutter sah erst verwirrt aus und lachte dann los. „Tut mir leid. All das ist so unwirklich … du hast ein Baby, hast Muttermilch auf Vorrat …“

„Es ist unwirklich“, stimmte Mackenzie ihr zu. „Hier zu sein auch. Also … was ist nun mit den Margaritas?“


* * *

„Dein letzter Besuch hier war der Auslöser“, sagte Patricia.

Sie saГџen auf der Couch, jeweils einen Margarita in der Hand. Zwischen ihnen war ein Platz frei; es war offensichtlich, dass die Situation fГјr beide noch immer unangenehm war.

„Für was?“, fragte Mackenzie.

„Du warst nicht übermäßig unhöflich oder so, aber ich habe gesehen, wie gut es dir ging. Und dann dachte ich mir: Sie ist meine Tochter. Ich weiß, dass ich keine tolle Mutter war … überhaupt nicht. Aber ich bin stolz auf dich, auch wenn ich zu dem Ergebnis nicht viel beigetragen habe. Es gab mir das Gefühl, dass auch ich etwas aus mir machen kann.“

„Und das stimmt.“

„Ich versuche es“, sagte sie. „Ich bin zweiundfünfzig Jahre alt und endlich schuldenfrei. Natürlich ist die Arbeit im Hotel nicht die Karriere meiner Wahl …“

„Aber bist du glücklich?“, fragte Mackenzie.

„Das bin ich. Vor allem jetzt – mit deinem Besuch und den wundervollen Neuigkeiten.“

„Seitdem ich Dads Fall abgeschlossen habe … ich weiß nicht. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass ich versucht habe, jeden Gedanken an dich zu verdrängen. Ich dachte, wenn ich das, was Dad passiert ist, in der Vergangenheit lassen kann, kann ich dich genauso gut auch zurücklassen. Und das hatte ich auch vor. Aber dann kam Kevin und Ellington und ich realisierten, dass wir unserem Baby nicht wirklich viel Familie bieten können. Wir wollen, dass Kevin Großeltern hat.“

„Du weißt, dass er auch eine Tante hat“, sagte Patricia.

„Ich weiß. Wo ist Stephanie?“

„Sie ist nach LA gezogen. Ich weiß nicht, was sie dort tut und habe Angst, zu fragen. Ich habe seit zwei Monaten nicht mit ihr gesprochen.“

Das zu hören schmerzte ein bisschen. Sie hatte immer gewusst, dass Stephanie kein Faible für Stabilität hatte. Aber sie dachte nur selten darüber nach, dass auch Stephanie sich dafür entschieden hatte, ein Leben weit weg von ihrer Mutter zu führen. Als sie mit dem Margarita in der Hand auf der Couch saß, fragte Mackenzie sich zum ersten Mal, wie es sich für eine Mutter anfühlen musste, zu wissen, dass beide Kinder der Meinung waren, ohne sie ein besseres Leben führen zu können.

„Ich habe das Gefühl, mich bei dir entschuldigen zu müssen“, sagte Mackenzie. „Ich weiß, dass ich dich nach Dads Beerdigung von mir weggeschoben habe. Ich war erst zehn und war mir dessen vermutlich nicht bewusst, aber … ja. Und das habe ich für den Rest meines Lebens so beibehalten. Aber hier ist die Sache, Mom. Ich will, dass Kevin eine Großmutter hat. Das will ich wirklich. Und ich hoffe, dass wir gemeinsam daran arbeiten können.“

Wieder kämpfte Patricia mit den Tränen. Sie lehnte sich nach vorne und verkürzte den Abstand zwischen ihnen. Dann legte sie ihre Arme um Mackenzie. „Auch ich war nicht da“, sagte Patricia. „Ich hätte anrufen oder mich anderweitig bemühen können. Aber als ich bemerkte, dass du dich entfernt hattest – sogar schon als Kind – habe ich dich gehen lassen. Ich war fast schon erleichtert. Und ich hoffe, dass du mir vergeben kannst.“

„Das kann ich. Kannst du mir verzeihen, dich abgewiesen zu haben?“

„Das habe ich bereits“, sagte Patricia, löste sich aus der Umarmung und nippte an ihrem Margarita, um den Tränenfluss zu stoppen.

Mackenzie konnte spüren, wie sich auch in ihren Augenwinkeln Tränen bildeten, doch sie war noch nicht ganz bereit, sich ihrer Mutter gegenüber so zu öffnen. Sie stand auf, räusperte sich und leerte ihr Glas.

„Lass uns rausgehen“, sagte sie. „Wir können etwas zu Abend essen. Ich lade dich ein.“

Patricia White blickte sie ungläubig an und begann dann zu lächeln. Mackenzie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Mutter je so glücklich gesehen zu haben. Sie war wie ein anderer Mensch. Und vielleicht war sie das tatsächlich. Wenn sie ihrer Mutter eine Chance gäbe, könnte sie vielleicht herausfinden, dass die Frau, die sie vor so langer Zeit von sich gestoßen hatte, nicht das Monster war, für das sie sie gehalten hatte.

Schließlich war auch Mackenzie ein anderer Mensch, als sie es mit zehn Jahren gewesen war. Zum Teufel, sie hatte sich sogar im letzten Jahr, seit dem letzten Gespräch mit ihrer Mutter, verändert. Wenn Mackenzie etwas dadurch gelernt hatte, ein Baby zu haben, dann war es, dass das Leben sich ziemlich stürmisch wandeln konnte.

Und wenn das Leben sich so schnell Г¤ndern konnte, warum sollten die Menschen dann nicht auch dazu in der Lage sein?




Kapitel sieben


Mackenzie wachte am nächsten Morgen mit einem leichten Kater auf. Sich mit ihrer Mutter beim Abendessen zu versöhnen war schön gewesen – genau wie die Drinks im Anschluss. Im Hotel – dem luxuriösen, auf das sie und Ellington sich zuvor geeinigt hatten – hatte sie sich ein Bad im Whirlpool und eine Flasche Wein vom Zimmerservice gegönnt. Sie wusste, dass die zwei Gläser, die sie in der Wanne genossen hatte, vermutlich etwas zu viel gewesen waren. Aber sie hatte das Gefühl, den kleinen Rausch zu verdienen, nachdem sie während der gesamten Schwangerschaft auf Alkohol verzichtet hatte und auch nun, in der Zeit des aktiven Stillens und Abpumpens, größtenteils ohne auskommen musste.

Der leichte Kopfschmerz, den sie nun beim Aufstehen und Anziehen verspГјrte, war ein Preis, den sie gerne bezahlte. Sie genoss die Zeit alleine, nachdem sie den ersten Schritt gemacht hatte, sich mit ihrer Mutter auszusprechen. Sie hatten sich auf den neusten Stand gebracht, von ihrem Leben geplaudert, schmerzhafte Momente geteilt und dann die Nacht gemГјtlich ausklingen lassen. Es war geplant, dass sie sich miteinander in Verbindung setzen wГјrden, sobald Mackenzie wieder zu Hause war und sich entschieden hatte, wie ihre Karriere weitergehen sollte. Und nun war da nur noch ein Punkt auf Mackenzies Liste, den sie auf ihrer Nebraska-Tour abhaken wollte.

Sie hatte das GefГјhl, den Kreis geschlossen zu haben. Sie war allein gereist, hatte ihre Mutter gesehen und die weite, offene Landschaft Nebraskas genossen. Auch wenn sie eigentlich kein gefГјhlsduseliger Mensch war, konnte sie den Drang nicht ignorieren, ihr altes Revier besuchen zu wollen. Das Revier, in dem sie vor fast sechs Jahren ihre Karriere begonnen hatte.

Nach dem Frühstück in Lincoln begann sie die eineinhalbstündige Fahrt. Ihr Flug zurück nach DC würde erst in sieben Stunden abheben, sie hatte also massig Zeit an der Hand. Wenn sie ehrlich mit sich war, wusste sie nicht, warum sie sich auf den Weg zum Revier machte. Sie hatte ihren Mentor nie wirklich gemocht und konnte sich kaum an ihre anderen Kollegen erinnern. Den Polizisten Walter Porter allerdings hatte sie nicht vergessen. Als kurzzeitiger Dienstpartner war er auch während dem Vogelscheuchen-Mörder-Fall an ihrer Seite gewesen – der Fall, der schließlich die Aufmerksamkeit des FBIs auf sich gezogen und deren Abwerbeversuche initiiert hatte.

Die Erinnerungen kamen langsam zurück, als sie auf der anderen Straßenseite vor dem Reviergebäude parkte. Es sah nun so viel kleiner aus, aber sie war stolz darauf, es zu kennen. Es war nicht nur Nostalgie, die sie erfasste, sondern eine herzerwärmende Vertrautheit.

Sie überquerte die Straße und betrat das Gebäude, während sich ihr Mund zu einem kleinen Lächeln verzog. Der kleine Flur brachte sie zum Empfang, der von Schiebetüren aus Glas eingegrenzt war. Hinter der Frau am Empfang befand sich eine Art Großraumbüro, das noch genauso aussah wie damals. Sie ging auf das Glas zu und war erfreut, ein bekanntes Gesicht vorzufinden, auch wenn sie lange nicht daran gedacht hatte.

Nancy Yule schien nicht gealtert zu sein. Noch immer befanden sich die Fotos ihrer Kinder auf ihrem Schreibtisch und dieselbe kleine Tafel neben ihrem Telefon, auf der ein Bibelvers stand, an den Mackenzie sich nicht erinnern konnte.

Nancy blickte auf und brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, wer gerade durch die Tür gekommen war. „Oh mein Gott“, sagte Nancy, sprang auf und eilte zu der Tür am langen Ende des Raumtrenners. Die Tür öffnete sich, Nancy kam heraus und umarmte Mackenzie innig.

„Nancy, wie geht es dir?“, fragte Mackenzie, während Nancy sie noch immer festhielt.

„Ach, wie immer“, sagte Nancy. „Wie geht es dir? Du siehst fantastisch aus!“

„Danke. Mir geht es gut. Ich habe meine Mutter besucht und dachte, ich lasse mich auch hier mal wieder blicken, bevor ich mich auf den Nachhauseweg mache.“

„Wohnst du immer noch in DC?“

„Ja, das tue ich.“

„Noch immer beim FBI?“

„Ja, ich habe sozusagen meinen Traum verwirklicht, wenn ich das so sagen kann. Ich bin verheiratet und habe ein Kind.“

„Ich freue mich so für dich“, sagte Nancy und Mackenzie zweifelte nicht daran, dass sie es so meinte. Ihr Blick trübte sich etwas, als sie hinzufügte: „Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich jeder über deinen Besuch hier freuen wird. Hier hat sich so ziemlich alles verändert.“

„Zum Beispiel?“

„Nun, Chief Nelson ist letztes Jahr in Rente gegangen. Berryhill ist befördert worden und hat seinen Platz eingenommen. Erinnerst du dich an ihn?“

Mackenzie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Hey, hast du die Adresse oder Telefonnummer von Walter Porter? Ich erreiche ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr unter der Nummer, die ich von ihm habe.“

„Oh Liebes, ich habe ganz vergessen, dass ihr zeitweise zusammengearbeitet habt. Ich bin nur ungern diejenige, die dir davon erzählt, aber Walter ist vor etwa acht Monaten verstorben. Er hatte einen schweren Herzinfarkt.“

„Oh“, war alles, was Mackenzie herausbrachte. Sie fragte sich, ob sie ein schrecklicher Mensch war, die Neuigkeit so gefasst aufzunehmen. Aber er war für sie schließlich nicht mehr als ein Bekannter gewesen.

„Das ist furchtbar“, sagte sie. Sie blickte wieder durch die Glaspanele in das Großraumbüro und in die Flure, wo sie mehrere Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Hier hatte sie ihre erste Verhaftung vorgenommen, ihren ersten Fall gelöst und zum ersten Mal männliche Vorgesetzte vor den Kopf gestoßen.

All das waren schöne Erinnerungen, die sich mittlerweile nur noch wie verblasste Fotos anfühlten.

„Einige der Beamten, mit denen du gearbeitet hast, sind womöglich gerade auf Streife“, meinte Nancy. „Sauer, Baker, Hudson …“

„Ich will niemanden bei der Arbeit stören“, sagte Mackenzie. „Ich habe lediglich eine kleine Reise in die Vergangenheit gemacht und …“

Das Vibrieren ihres Handys in ihrer Hosentasche unterbrach sie. Sie nahm an, dass es Ellington war, der ihr erzählen wollte, wie niedlich Kevin wieder einmal gewesen war. Oder vielleicht handelte es sich um ein medizinisches Anliegen. Ihr Baby war die gesamten dreieinhalb Monate seines bisherigen Lebens gesund gewesen und sie warteten nur auf den ersten Arztbesuch.

Aber mit dem Namen, den sie auf dem Bildschirm sah, hatte sie während ihrer kleinen Findungsreise nach Nebraska überhaupt nicht gerechnet. McGrath.

„Entschuldige mich, Nancy. Da muss ich rangehen.“

Nancy nickte kurz und ging dann wieder zurück an ihren Schreibtisch, während Mackenzie den Anruf beantwortete.

„Agent White.“

„Kann ich, basierend auf der Art und Weise, wie Sie sich gemeldet haben, davon ausgehen, dass Sie sich dafür entschieden haben, bei uns zu bleiben?“, fragte McGrath. Sie konnte keinen Humor in seiner Stimme erkennen; es klang vielmehr so, als versuche er, sie zu überzeugen.

„Tut mir leid, alte Gewohnheit. Ich habe mich noch nicht entschieden.“

„Nun, vielleicht kann ich helfen. Hören Sie … ich respektiere, was Sie durchmachen und weiß Ihre Ehrlichkeit, die Sie mir bei unserem Gespräch entgegengebracht haben, wirklich zu schätzen. Aber ich rufe an, weil ich Sie um einen Gefallen bitten möchte. Es ist nicht wirklich ein Gefallen, da es technisch gesehen Teil des Jobs ist, den Sie noch immer haben. Aber ich habe vor einer Stunde einen Anruf aus Wyoming erhalten. Es geht um einen Fall. Und da Sie bereits dort draußen sind, dachte ich daran, Ihnen den Vorrang zu geben. Klingt nach einem einfachen Job. Womöglich müssen Sie nicht mehr tun, als vor Ort zu sein, den Tatort zu besichtigen und ein paar Leute zu befragen.“

„Ich dachte, Sie wollten unser Gespräch respektieren.“

„Das tue ich. Deshalb biete ich Ihnen den Job auch zuerst an. Sie sind bereits in der Gegend und es klingt nach einem unkomplizierten Fall. Ich dachte, es könnte Ihnen dabei helfen, herauszufinden, was Sie wollen. Außerdem haben Sie erst kürzlich an einem Fall gearbeitet, der diesem hier ähneln könnte. Wenn Sie nein sagen, ist das vollkommen in Ordnung. Ich kann morgen früh jemand anderen hinschicken.“

Wieder überkam sie das Gefühl, dass sich ein Kreis schloss. Sie stand genau an der Stelle, wo sie einst ihre Karriere als hoffnungsvolle Polizistin begonnen hatte – mit dem Ziel, Kripobeamtin zu werden. Diese Ambitionen hatte sie in sehr kurzer Zeit erfüllt. Und nun sprach sie, weniger als sieben Jahre später, mit einem Direktor des FBI.

Sie sah durch die Glasabtrennung hindurch zu den Schreibtischen, den Büros und den Fluren des Reviers. Es fiel ihr leicht, sich beim Betrachten des Raumes auch an das Zielbewusstsein zu erinnern, das sie damals verspürt hatte. Sie fühlte es noch immer, aber es war anders als damals, als sie eine Beamtin am Beginn ihrer Karriere gewesen war, in einer Welt, die noch immer von Männern dominiert wurde, und den Wunsch verfolgt hatte, die Welt zum Guten zu verändern.

„Was bedeutet unkompliziert?“, fragte sie.

„Es besteht der Verdacht, dass eine Person Menschen von beliebten Kletterstellen aus in den Tod stößt. Das letzte Opfer wurde im Grand Teton National Park gefunden. Bisher geht man von zwei Opfern aus.“

„Woher wissen wir, dass es sich nicht um typische Kletter-Unfälle handelt?“

„Es gibt Beweise für Gewalteinwirkung.“

Mackenzies Hirn arbeitete bereits auf Hochtouren, während sie versuchte, Antworten für den Fall zu finden. Und deshalb wusste sie auch, wie ihre Antwort für McGrath lauten würde. Ihre letzte, annähernd aktive, Jobtätigkeit war fast acht Monate her und die Aufregung, die sie nun überkam, war willkommen und gleichzeitig unerwartet.

„Schicken Sie mir die Fallinformationen und den Tripverlauf. Aber ich möchte innerhalb von zwei oder drei Tagen wieder zuhause sein.“

„Natürlich. Das dürfte kein Problem sein. Danke, Agent White. Ich schicke Ihnen alles per E-Mail zu.“

Mackenzie beendete den Anruf und hatte für einen Moment das Gefühl, sich in einem sehr unwirklichen Traum zu befinden. Da stand sie, in dem ersten Polizeirevier, in dem sie je gearbeitet hatte, grübelte über ihre Vergangenheit nach und versuchte gleichzeitig, ihre Zukunft zu bestimmen. Und dann kam aus dem Nichts der Anruf von McGrath und dieser unerwartete Fall, der gelöst werden wollte. Es fühlte sich an, als wollte sich das Universum in ihre Entscheidungsfindung einmischen.

„Mackenzie?“

Nancy Yules Stimme lenkte sie von der ganzen absurden Situation ab. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Sorry, ich war kurz ganz woanders.“

„Klang nach einem intensiven Gespräch“, sagte Nancy. „Ist alles in Ordnung?“

Mackenzie überraschte sich selbst ein bisschen, als sie nickte. „Ja. Ich glaube tatsächlich, dass es das ist.“




Kapitel acht


Sieben Stunden später war sie in der Luft und auf dem Weg nach Wyoming; unter ihr der Norden Nebraskas. Alles war so schnell gegangen, dass sie bisher weder die Zeit noch die Möglichkeit gehabt hatte, die Materialien auszudrucken, die McGrath ihr bezüglich des Falles im Grand Teton National Park geschickt hatte. Deshalb war sie nun gezwungen, sich die Informationen übers iPhone anzusehen.

Viel war es nicht. Die Polizeiberichte fielen spärlich aus, genau wie die forensischen Gutachten auch. Wenn ein Mensch so tief stürzt, steht die Todesursache normalerweise nicht zur Debatte. Sie las sich die Dokumente mehrere Male durch, fand aber nichts – das lag nicht an ihren mangelnden Fertigkeiten, sondern schlichtweg an den fehlenden Informationen. Selbst die Details, die sie zu den Opfern erhalten hatte, gaben nicht viel her. Zwei Menschen waren beim Klettern in den Tod gestürzt und es gab Beweise, dass es sich dabei nicht um Unfälle handelte. In einem der Fälle war ein abgetrenntes Seil involviert gewesen, im anderen passte eine Verletzung an der Leiche nicht zu denen, die bei einem Sturz zu erwarten sind.

Mackenzie machte sich auf dem Handy Notizen und fragte sich kurz, ob vielleicht der Vater mit dem Mord seines Sohns in Verbindung stand. Es war nicht viel, aber besser als nichts.

Als das Flieger sich im Landeanflug zum Jackson Hole Flughafen befand, bewunderte Mackenzie von ihrem Platz am Fenster die Bergspitzen des Grand Teton National Parks. Im klarblauen Licht des Morgens waren sie wunderschön und die Vorstellung eines Mörders, der in dieser Landschaft sein Unwesen trieb, war mehr als verstörend.

Bei dem Anblick musste sie auch an Kevin denken und ihr Herz schmerzte. Sie fühlte sich wie eine Versagerin, ihn zurückgelassen zu haben – eine herzlose Mutter, die schon jetzt andere Prioritäten hatte als ihr Baby. Doch sie hatte genügend Bücher verschlungen, um zu wissen, dass diese Gefühle für neue Eltern mehr als normal waren. Das machte diese aber nicht weniger real.

Als sie wenige Augenblicke später das Flugzeug verließ, hatte sie noch immer nicht ganz das Gefühl, sich inmitten eines Falles zu befinden. Sie trug bei ihrer Ankunft in Jackson Hole dieselbe Kleidung, die sie auch auf dem Polizeirevier bei ihrem Gespräch mit Nancy Yule getragen hatte. Schließlich hatte sie für den Besuch bei ihrer Mutter weder FBI-Uniform noch Dienstwaffe eingepackt. Das war etwas, was sie mit der örtlichen Polizeidienststelle regeln musste. Hoffentlich gab es keine Verzögerungen, weil es in Wyoming keine FBI-Filiale gab, da das Büro in Denver neben Colorado auch für Wyoming zuständig war.

Als ihr das klar wurde, hatte sie das Gefühl, sich am Ende der Welt zu befinden – ein Gefühl, das nur noch verstärkt wurde, als sie den Flughafen betrat. Sicher, es war ein hübsches Gebäude, aber im Vergleich zum chaotischen Gewimmel am Dulles-Flughafen in DC war der Menschenstrom hier dünn und fast schon ordentlich.

Aufgrund des mangelnden Menschenaufgebots in der Anlage entdeckte Mackenzie problemlos die Frau in der blauen Polizeiuniform, die am Gate auf sie wartete. Sie war um die vierzig und ihr blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, umrahmte ein hübsches, kantiges Gesicht. Sie schien sich jede Person genau anzusehen, die mit Mackenzie hinter der Absperrung erschien. Als sich ihre Blicke trafen, nickte die Polizistin höflich und traf sich dann in der Flughafenhalle mit Mackenzie.

„Agent White?“, fragte die Frau. Die silberne Marke über ihrer linken Brust identifizierte sie als Timbrook.

„Das bin ich.“

„Gut. Mein Name ist Shelly Timbrook. Ich dachte, es sei am besten, mich hier mit Ihnen zu treffen und Ihnen den Ärger zu ersparen, einen Mietwagen nehmen zu müssen. Außerdem – je eher ich Sie zum Tatort bringen kann, desto besser. Das zweite Opfer, der zweiundzwanzigjährige Bryce Evans, wurde am Fuß des Logan’s View gefunden. Da sich die Fundstelle innerhalb des Parks befindet, steht der Fall auch im Blickpunkt der Öffentlichkeit.“

„Wie weit ist es von hier bis zum Parkeingang?“, fragte Mackenzie.

„Nicht mal zehn Minuten. Dann nochmal fünf bis zum Logan’s View.“

„Dann los“, meinte Mackenzie.

Timbrook übernahm die Führung und bewegte sich auf den Ausgang des Flughafens zu. Mackenzie folgte und schrieb währenddessen Ellington eine Nachricht, um ihn wissen zu lassen, dass sie angekommen war und bereits mit der örtlichen Polizei in Verbindung stand. Als sie ihm von dem Anruf mit McGrath erzählt hatte, wusste er bereits Bescheid. McGrath hatte ihn scheinbar sofort nach seinem Telefonat mit Mackenzie kontaktiert. Ellington hatte aufgeregt geklungen und ebenfalls behauptet, dass sie eine Gelegenheit wie diese brauchte, um herauszufinden, wie ihre nächsten Schritte aussehen sollten.

Das Schlimme daran war, dass er recht hatte. Sie wünschte, er könnte hier bei ihr sein. Es war nicht nur die längste Zeit der Trennung von Kevin seit seiner Geburt – auch Ellington und sie waren seit ihrem Mutterschutz einen Monat vor Kevins Geburt nie länger als zehn Stunden voneinander getrennt gewesen.

Sie vermisste ihn. Und obwohl sie sich deshalb jung und unreif fГјhlte, war es die Wahrheit. Aber sie schaffte es, diese GefГјhle fГјrs erste beiseite zu schieben. Sie wГјrde ihn und Kevin per Videochat anrufen, sobald sie im Hotel war. Aber auf den furchtbar lГјckenhaften Polizeiberichten basierend, nahm sie an, dass ihr ein langer Nachmittag bevorstand.


* * *

„Um es sofort aus dem Weg zu räumen, muss ich Ihnen etwas gestehen“, sagte Timbrook. „Ich bin eine Art Fan von Ihnen. Ich weiß, dass das albern klingt, aber als Sie vor einigen Jahren den Vogelscheuchen-Mord aufgeklärt haben, war ich mehr als beeindruckt. Darf ich fragen … sind Sie dadurch beim FBI gelandet?“

„Mehr oder weniger.“

„Es war sehr erfrischend, Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie – als junge Frau – die Leitung über eine Truppe übernommen haben, die hauptsächlich aus Männern bestand. Das war ein gutes Gefühl.“

Mackenzie wusste nicht, wie sie auf diese Art von Kompliment reagieren sollte, also ignorierte sie es ganz und ging sofort zum Geschäftlichen über.

„Ich habe die Berichte beider Opfer gelesen und leider nur wenig erfahren“, sagte sie. „Ich weiß, dass das zweite Opfer erst gestern gefunden wurde, aber warum die Verzögerung bezüglich der Informationen zum ersten Opfer?“

„Weil man für die ersten zwölf Stunden von einem tragischen Unfall ausgegangen ist. Oder sogar Selbstmord. Auch ich habe so etwas vermutet. Die Leiche wurde unterhalb der Exum Ridge gefunden und war dort vermutlich bereits mehrere Tage gelegen.“

„Wie weit sind der Logan’s View und die Exum Ridge voneinander entfernt?“

„Etwa vier Kilometer. Es gibt einige Hauptwanderwege, die zwischen den beiden Aussichtspunkten verlaufen.“

„Und wir gehen davon aus, dass die beiden Morde etwa vier Tage auseinander liegen, nicht wahr?“

„Soweit wir es sagen können, ja. Die Annahme basiert bisher lediglich auf den Untersuchungen der Gerichtsmediziner. Wir dürfen nicht vergessen, dass beide Leichen von Wanderern entdeckt worden sind. Wir können keine Aussagen darüber treffen, wie lange die Leichen sich bereits an ihrer Position befunden hatten. Das Gespräch mit den Familien und die Erstellung von Zeitplänen kann uns nur eine ungefähre Vorstellung geben.“

„Können Sie mir sagen, was wir über das erste Opfer wissen?“

„Sicher. Es handelt sich um die dreiundzwanzigjährige Mandy Yorke. Ihre Leiche wurde am Fuß der Exum Ridge gefunden. Sie hatte sich relativ weit von den üblichen Kletterrouten entfernt aufgehalten, was darauf hinweist, dass sie eine Art Profi gewesen sein muss. Das kommt häufiger vor. Gute Kletterer halten sich nur selten mit den traditionellen Routen auf. Sie verlassen die ausgetretenen Touristenpfade, um etwas Anspruchsvolleres zu finden. Deshalb wurde zuerst angenommen, dass es sich bei ihrem Tod um einen Unfall gehandelt haben könnte. Aber bei der Suche nach Beweisen am Tatort mussten wir feststellen, dass ihr Kletterseil abgetrennt worden war.“

„Absichtlich?“

„So sieht es aus. Es ist ein glatter Schnitt. Wir haben ihn mit einigen alten, gebrochenen Seilen im Park verglichen. Der saubere Schnitt von Yorkes Seil unterschied sich immens von den ausgefransten Enden der anderen.“

„Weiß man, wo das Seil abgeschnitten worden ist?“

„Oben. Es sieht fast so aus, als hätte der Mörder darauf gewartet, dass Yorke die Spitze erreicht.“

„Wurde beim zweiten Opfer auch sabotiertes Equipment gefunden?“, fragte Mackenzie.

„Nein. Die Gerichtsmediziner meinten, wir hätten Glück gehabt – mit wir sind wir Ermittler gemeint – weil das Opfer auf seinen Rücken gefallen ist. Dadurch konnten wir problemlos erkennen, dass das stumpfe Trauma am Kopf nicht vom Fall verursacht wurde. Vielmehr wirkt es wie das Resultat eines Angriffs, womöglich mithilfe eines Steins oder Hammers.“

„Ist die ganze Truppe mit dieser Theorie einverstanden?“

„Kaum“, meinte Timbrook. „Der Gerichtsmediziner muss noch bestätigen, dass die Stirnverletzung des zweiten Opfers nicht vom Fall verursacht wurde. Aber der bloße Anblick spricht bereits Bände. Wie Sie wissen, reicht das allerdings nicht aus. Und während fast alle zustimmen, dass das sauber abgetrennte Seil Yorkes verdächtig ist, sind auch hier nicht alle bereit, Fremdeinwirkung in Betracht zu ziehen. Kletterunfälle sind nicht selten, jedes Jahr sterben drei bis vier Kletterer und Wanderer, etwa fünfzig werden verletzt.“

„Aber zwei Todesfalle in vier oder fünf Tagen?“, fragte Mackenzie.

„Ich weiß. Ich vermute, dass jeder auf dem Revier mittlerweile skeptisch ist, aber niemand will es aussprechen, bevor wir absolute Sicherheit haben.“

Mackenzie nickte langsam. Sie verstand das Zögern, zwei Todesfälle Morde zu nennen, wenn es keine handfesten Beweise gab. Aber noch mehr verstand sie Timbrooks Gedankengänge. Sie hatte schon oft in ihren Schuhen gesteckt – eine ruhige Polizeibeamtin, umringt von Männern, die sie zwar respektieren, aber nur langsam schalten, wenn es darum geht, ihre Ideen als Tatsachen wahrzunehmen. Sie wusste natürlich, dass auch in der Gesetzesvollstreckung Gleichberechtigung immer mehr zur Norm wurde, aber ihr war auch bewusst, dass manche Traditionen nur schwer abzulegen waren.




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